Ein Mädchen aus Torusk
Damen, denen die Herren willig folgten – was weniger verwunderlich ist, wenn man weiß, daß viele Herren mit bekannten Namen ihren Unternehmerruhm erst durch Heirat erworben hatten –, vollzog sich innerhalb von zehn Minuten. Zurück blieb allein Reeder Holgerson, mißbilligend betrachtet, unmißverständlich durch Blicke aufgefordert, mitzuziehen. Als er sich abwandte, hob man die Schultern. Na ja, der Holgerson. War schon immer etwas links. Jetzt sieht man es! Wenn der so weitermacht, wird seine Reederei eines Tages pleite sein. Ein echter Christ und ein echter Demokrat hat in dem Hause Abels' ab heute nichts mehr zu suchen.
Als das Haus leer war bis auf die Dienerschaft, ging Holgerson hinüber zum Wintergarten. Dort saßen Inken und Abels Hand in Hand und sahen wie ertappte Liebesleute auf, als Holgerson sich räuspernd eintrat.
»Inken wird sich doch noch einmal operieren lassen!« sagte Abels und stand auf. »Es hat Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, daß man nie im Leben resignieren soll!«
»Gratuliere, Abels«, sagte Holgerson, aber es schwang keine Freude in seiner Stimme. »Sie scheinen bei Inken mehr Glück gehabt zu haben als Ihre Anuschka bei der Gesellschaft.«
»Anuschka? Was ist mit ihr?« Abels wollte aus dem Wintergarten laufen, aber Holgerson hielt ihn fest.
»Hören Sie mir erst zu«, sagte er.
»Hat man sie beleidigt?« rief Abels. Sein Gesicht hatte sich verändert. Es war kantig, zu allem entschlossen, hart wie aus Stein.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat Anuschka die Gesellschaft beleidigt? Auf jeden Fall sind wir noch allein hier. Ihre Gäste sind alle gegangen.«
»O Gott!« sagte Inken leise.
»Und Anuschka?« schrie Abels.
»Ich nehme an, sie sitzt noch im Salon. Ich habe sie nicht gesehen, als die Damen abmarschierten.«
Abels befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff Holgersons und rannte aus dem Wintergarten.
»Wir gehen auch«, sagte Holgerson, als Abels außer Hörweite war.
»Nein, Vater!« antwortete Inken betont.
»Wir müssen, Inken.«
»Wer zwingt uns?«
»Unser Ruf!«
»Ich verzichte darauf.«
»Wir verdienen unser Geld mit diesem Ruf.«
»Ich pfeife auch auf das Geld! Ich habe es dir schon einmal bewiesen!« Inkens Gesicht glühte. »Oh, wie ich diese hohlen Fratzen hasse! Anspucken möchte ich sie! Welch ein herrlicher Mensch ist diese Anuschka! Das ist ein Mensch! Und wenn ganz Bremen explodiert: Ich gehe mit ihr aus, Arm in Arm. Ich küsse sie vor allen Leuten als meine Schwester!«
Holgerson wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du weißt nicht, was ein Ruin ist, Inken –«, sagte er heiser.
»Ruin? Warum? Weil ich Anuschka verehre, die so viel mehr wert ist als alle diese blasierten Masken. Leben wir denn in einer Hölle?«
»Nein – aber in der Gemeinschaft zu schnell reich gewordener Menschen, und das ist noch schlimmer.«
Anuschka saß noch immer unbeweglich auf ihrem Gobelinstuhl im Salon, als Abels hereinstürzte. Er hatte sich vergewissert, daß alle Gäste das Haus verlassen hatten. Diener Alfons hatte in der Tür zur Diele gestanden und ihm zugerufen: »Weg sind sie, als wenn am Hafen ein nackter Mann versteigert wird.«
»Was hat man dir getan, Anuschka?« fragte Abels und riß sie vom Stuhl hoch. Er drückte sie an seine Brust und küßte ihr die Augen und die zitternden, kalten Lippen. »Ich schwöre dir – jeden einzelnen ziehe ich zur Rechenschaft! Was ist geschehen?«
»Nichts, Tinja, nichts.« Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn mit einer scheuen Zärtlichkeit wieder. Aber plötzlich weinte sie auf, verbarg ihr schmales Gesicht an seiner Brust und schlang die Arme um seine Schultern. »Rette mich, Tinja!« schrie sie gegen sein weißes Smokinghemd. Ihre Lippen hinterließen rote Flecken von der Schminke, immer und immer wieder stieß ihr Gesicht dagegen. »Rette mich vor diesen Menschen – sie sind schlimmer und böser und erbarmungsloser als die Wölfe und Tiger in unseren Wäldern.«
*
Bereits drei Tage später ließ sich bei Abels ein Herr melden, der den nicht aufregenden Namen Peter Ulski trug und seine Visitenkarte durch den Diener Alfons hereinschicken ließ. Martin Abels hob die Schultern, sagte: »Kenne ich nicht«, ließ ihn aber eintreten und kam ihm durch das Zimmer halb entgegen.
Peter Ulski war ein großer, schlanker Mann mit einem Gesicht, das an einen Leberkranken erinnerte. Erst aus der Nähe erkannte man, daß das Gelbliche keine Krankenfarbe, sondern Natur war. Peter Ulski
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