Ein Mädchen aus Torusk
Pfui!«
Anuschka sah die Frauen wehmütig an. Warum seid ihr alle so, dachte sie. Ihr steht da vor mir, und wenn ihr es könntet, ihr würdet mich bespucken. Aber warum, um Jesu Leiden willen, warum? Mamuschka wollte keinen Krieg. Papuschka wollte ihn nicht. Keiner in Torusk wollte es. Plötzlich hieß es aus Schigansk: Man muß kämpfen! Der Große Vaterländische Krieg ist da. Die Deutschen marschieren auf Moskau. Und sie haben uns alles erzählt … wie grausam sie sind, daß sie Kinder am Spieß braten, daß sie den Frauen die Brüste abschneiden und sie wie Schinken räuchern, daß sie die gefangenen Männer entmannen und ihnen die Augen ausstechen … und wir haben es geglaubt, wir alle, ich auch … ich war doch ein Kind, und was der Distriktsowjet sagte oder der Lehrer, das war Wahrheit. Denn sie waren ja große, ehrliche Männer. Sie waren in der Partei. Sie trugen Ehrennadeln. Sie waren unser Vorbild. Weiß ich, ob das alles wahr war, was sie erzählten? Später hat Tinja mir alles erklärt. Da habe ich ihm geglaubt. Wir Menschen glauben ja immer denen, die sich groß machen, die groß gemacht werden … oder die wir lieben. Was wußten wir in der Taiga von Torusk vom Krieg? Ab und zu kam ein Mütterchen und weinte. Ihr Sohn war gefallen, oder der Bruder, oder der Mann. Und sie stellten sich hin, in den Schnee oder in die Sonne, hoben die Fäuste zum Himmel und verfluchten die Deutschen.
Wie war das damals mit Larissa Jampolewa? Das arme Täubchen verlor alles: den Mann, zwei Söhne, den Bruder, den Schwager. Ganz allein war sie plötzlich auf der Welt, ohne einen männlichen Schutz. Da hatte sie geschrien: »Gott! O Gott! Schicke die Pest über die Deutschen! Strafe sie, o Jesus! Lasse einen Stern auf sie herunterfallen, Maria, Gebenedeite. Vernichte sie, die Deutschen. Was wollen sie bei uns, warum ermorden sie unsere Männer? Was haben wir ihnen getan?«
Damals antwortete niemand auf ihren Schrei, aber in unsere Seele drang es ein. Krieg ist Mord! Jeder Bruderhaß ist Mord, denn wir Menschen sind ja Brüder. Warum aber verstehen sie es nicht, die Menschen? Warum morden sie weiter? Warum können sie nicht sein wie die Bäume der Taiga? Nebeneinander aufwachsen, groß und stark werden, jedem Sturm trotzen, jedem Frost, jeder Hitze – ein riesiger, unendlicher Wald, an dem sich die Natur die Zähne ausbeißt? Ein Wald aus Menschen … o Gott, warum erkennen sie es nicht?
»Wir hatten vielle Totte«, sagte Anuschka mit leiser Stimme. »Zwanzig Millionen sechshunderttausend Totte. Zehn Prozent von ganz Bevölckerungg.«
Freifrau von Plessneck erstarrte. »Unerhört! Sie werfen unseren tapferen Soldaten vor, daß sie besser schossen als Ihre Horden?«
»Warum sie habben geschossen?«
»Eine typisch bolschewistische Frage!« rief Frau Dr. Faßler atemlos, ihr Mann, Dr. Roland Faßler, vielfaches Aufsichtsratsmitglied in verschiedenen Konzernen, war im Kriege Wehrwirtschaftsführer gewesen und später, nach dem Zusammenbruch, zeitweilig Waldarbeiter, bis man beim Wiederaufbau der Industrie die Fachleute aus den verschiedenen Ecken wieder hervorholte. »Wenn Sie eine leise Ahnung von Geschichte hätten …«
»Woher soll sie, meine Liebe. In der Taiga.« Frau Senator Pottbeck, erzogen in besten Schweizer Pensionaten, drückte ihr parfümiertes Spitzentaschentuch gegen Nase und Mund, als stänke es in der Umgebung Anuschkas nach Kloake. »Sie haben doch gehört: Sie war Komsomolzin!«
»Ist das nicht so etwas wie eine Vereinigung für freie Liebe?« fragte Frau Dr. Faßler. Ihre Stimme zitterte dabei, als betrachte sie projizierte erotische Bilder.
»So ähnlich, meine Beste«, antwortete Frau von Plessneck. »Auf jeden Fall ist es unter unserer Würde, hier weiter zu verweilen.«
Sie wandte sich ab und verließ grußlos den Salon.
In der Halle, am kalten Büfett und an den whiskybeschwerten Tischen, wunderten sich die Herren, als ihre Damen wie in einem Aufmarsch verblichener Schönheit hereinmarschierten, ihnen mit eisigen Mienen zuwinkten und weitergingen zur Diele. Die Herren verstanden. Sie stellten die Diskussionen über Getreidepreise und die neueste Lobby ein, unterbrachen Vertraulichkeiten aus Appartementwohnungen und folgten ihren Damen. In der Diele reichten Diener Alfons und die beiden Mädchen die Garderobe an, während die Lohndiener in der Küche saßen und darauf warteten, daß man die großen Gänge servieren konnte, die vorbereitet auf langen Tischen warteten. Der Abzug der empörten
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