Ein Mädchen aus Torusk
»Nehmen Sie eines mit: Wenn Anuschka irgend etwas geschieht, ganz gleich was … ich werde nicht ruhen, bis ich Sie gefunden habe. Und ich werde Sie finden! Über das, was dann folgt, brauchen wir nicht zu sprechen. Ich werde es tun, auch wenn ich nicht die Immunität der Diplomaten besitze. Ich werde mir mein Recht holen! Wir verstehen uns, Piotr Ulski?«
»Wir verstehen uns.« Ulski sah Abels lange und mit großen Augen an. »Ich habe immer Achtung vor einem gleichwertigen Gegner gehabt.«
Damit ging er. Diener Alfons brachte ihn bis an den Wagen. Er hatte kein normales Nummernschild, sondern eine Zollnummer. Peter Ulski war erst vor vier Tagen aus Moskau gekommen.
Martin Abels zögerte keine Minute, als die Tür hinter dem Besucher zufiel. Er lief zum Telefon und ließ sich mit dem Bundesverfassungsschutzamt in Köln verbinden. Ein Regierungsrat meldete sich bei der Abteilung Ost.
»Wir sind unterrichtet«, sagte er nach einigem Zögern. »Der Herr steht unter Aufsicht. Kommen Sie doch bitte nach Köln. Uns scheint, daß man von Moskau aus den Fall hochspielen will. Wir müssen uns einmal darüber unterhalten.«
Abels sagte zu und legte auf. Als er sich umwandte, stand Anuschka hinter ihm. Er hatte sie nicht kommen hören, und er schrak zusammen, als sie so dicht hinter ihm stand.
»Was ist geschehen, Tinja?« fragte sie leise. »Wer war der Mann?«
»Ein Besucher, Liebes.«
»Er kam aus Mütterchen Rußland.«
»Ja –«, gestand Abels zögernd.
»Er brachte Nachricht aus Torusk, nicht wahr? Bitte, antworte nicht. Ich will nicht, daß du mich belügst. Du sollst mich nie belügen, Tinja.« Sie senkte den Kopf und faltete die Hände vor der Brust. »Man hat Papuschka verhaftet.«
»Ja«, sagte Abels leise. »Diese Hunde!«
»Ich soll zurück, nicht wahr? Aber ich gehe nicht. Ich gehe nicht von dir, Tinja.« Ihr Kopf flog hoch. Die schwarzen schrägen Augen glitzerten voll Tränen. »Ich gehöre zu dir. Ich wußte, daß ich Torusk für immer verlasse, als die letzten Häuser im Schnee versanken und der Rauch aus den Öfen über den Wäldern zerflatterte. In diesem Augenblick waren sie alle gestorben … Papuschka, Mamuschka, Samsonow, Unjeski, das Dorf, der Wald, ganz Sibirien. Nur du warst noch da, nur du, Tinja.« Sie schloß die Augen und streckte die Arme nach ihm aus. »Machen wir die Augen zu, Tinja, und die Ohren … es gibt nur uns, weiter nichts auf der Welt.«
»Man will deinen Vater zur Zwangsarbeit schicken«, sagte Abels heiser.
»Papuschka ist gestorben, als ich wegging.« Sie warf sich an ihn und umklammerte ihn. Laut weinte sie auf und krallte ihre Hände in seinen Haaren fest. »Er ist tot!« schrie sie. »Man kann keinen Toten mehr deportieren! Das sollten wir denken! Nur das!«
*
Abels war nach Köln gefahren und hatte sein fast unglaubliches Abenteuer zu Protokoll gegeben. Unabhängig von ihm wurde Anuschka von einem Dolmetscher verhört. Es gab keine Unklarheiten mehr, durch die Ermittlungsakten wurde ein roter Strich gemacht. So wenig begreifbar es war, man erkannte es an: Da war ein Mann heimlich nach Sibirien gewandert, um das Mädchen zu holen, das er liebte.
»Früher hätte man daraus eine deutsche Heldensage gemacht«, sagte der Regierungsdirektor in Köln sarkastisch. »Heute sieht man so etwas rein politisch. So ändern sich nicht nur die Menschen, sondern auch die Auffassungen. Lassen wir jetzt also alles seinen normalen Weg gehen. Fräulein Turganow wird einen Ausländerpaß erhalten, und Sie suchen um die Erlaubnis einer Eheschließung nach. Es ist Ihnen doch klar, daß die Trauungsszene in Torusk nach deutschen Gesetzen nicht gültig ist.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Politisch werden wir jetzt einiges abzufangen haben, aber da habe ich keinerlei Sorge. Wir haben das Auswärtige Amt bereits unterrichtet. Nachdenklich stimmt mich bloß eine private Repressalie, wie man sie Ihnen angedroht hat.«
»Ich betrachte das nur als einen Schreckschuß.«
»Wir nicht, Herr Abels.« Der Regierungsdirektor blätterte in einigen Papieren. »Dieser Peter Ulski ist noch immer im Land. Er hat einen Diplomatenausweis und ist der Kontaktstelle für Kulturaustausch zugeteilt. Sie sollten vorsichtig sein, Herr Abels. Es übersteigt unsere Kräfte, Sie dauernd beschützen zu lassen. Wir können diesen Ulski beschatten, gewiß, aber in Deutschland leben viele Ulskis. Wir schätzen, daß allein in Westdeutschland 30.000 sowjetische Agenten herumlaufen, als biedere Bürger,
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