Ein Mädchen aus Torusk
eines verfolgten Tieres.
»Flüchten?« Abels schluckte. Er sah sich erkannt.
»Bist du in Torusk vor dem Tigerpaar geflüchtet, Tinja? Du hast es aufgescheucht und dann erlegt. Und jetzt willst du vor den Menschen flüchten?«
»Du hast recht, Anuschka.« Er legte den Arm um ihre Schulter und starrte in den Mondschein. »Kämpfen wir … aber die Menschen sind grausamer als die Tiger.«
*
An einem Dienstag war es soweit.
Inken Holgerson fuhr in Begleitung ihres Vaters, Martin Abels' und Anuschkas nach Köln in die Orthopädische Klinik. Die Operation war für Donnerstag festgesetzt. Professor Dr. Hollenbach hatte noch einmal alle Möglichkeiten erwogen und Reeder Holgerson vorgetragen.
»Wenn es nach mir ginge«, sagte Holgerson, »so würde ich dieses Risiko nicht eingehen. Aber meine Tochter will es. Wenn Sie meine Tochter genau kennen würden, wüßten Sie, was das bedeutet, Herr Professor. Man sagt uns Holgersons Dickköpfigkeit nach … bei Inken ist der Kopf aus Granit.«
Während der vorbereitenden Untersuchungen fuhren Martin und Anuschka nach Bonn und erhielten dort von einem Beamten des Innenministeriums einen Paß für Anuschka. »Das ist lediglich eine Formsache, wie Sie wissen«, erläuterte der Beamte das Papier bei der Übergabe. »Mit der Heirat wird Fräulein Turganow Deutsche. Diese ganze Prozedur dauert an sich sonst länger, aber auf höhere Verfügung hin haben wir den Vorgang beschleunigt. Darf ich im voraus bereits gratulieren?«
In Köln mieteten sie sich in einem der besten Hotels ein und waren in der Klinik, als Inken zum Operationssaal gebracht wurde. Abels und Anuschka gingen neben ihr her bis zu der Milchglastür, auf der ›Eintritt verboten‹ stand.
»Mut, Inki!« sagte Martin und küßte Inken auf die Wange. »Wenn du aus dieser Tür wieder hinausgefahren wirst, hast du wieder alle Chancen in der Hand. Denk daran, was ich dir gesagt habe: Im Sommer wollen wir auf der Unterweser segeln. Da mußt du fit sein.«
Anuschka nickte, obgleich sie nur die Hälfte verstanden hatte.
»Viell Glückk«, sagte sie in ihrer harten Betonung. »Isch bäten für disch.«
Inken Holgerson lächelte. Die begleitende Schwester berührte sie leicht am Arm. »Ich will tapfer sein«, sagte Inken leise. »So tapfer, wie ihr es gewesen seid.«
Dann wandte sie sich ab und humpelte in den OP-Trakt.
Weinend lag sie auf dem Vorbereitungstisch, weinend wurde sie narkotisiert.
Martin, ich liebe dich – war ihr letzter Gedanke.
Es war alles so hoffnungslos.
*
Während Reeder Holgerson in der Klinik blieb, um bei Inken zu sein, wenn sie aus der Narkose erwachte, benutzte Abels den Nachmittag, um bei Geschäftsfreunden vorzusprechen und ihnen die Hand zu drücken. Auch wenn seine Kugellager berühmt waren, ist ein Händedruck des Chefs immer besser als zehn Werbebriefe. Anuschka lieferte er in dieser Zeit in einem Modehaus ab. Sie sollte sich einige Sommerkleider aussuchen.
Es war ein wirklicher Zufall, daß an diesem Nachmittag Dr. Roland Faßler von einer Aufsichtsratssitzung zu seinem Hotel fuhr und auf dem Neumarkt Anuschka bemerkte, die, sich wie in einem Wunderland vorkommend, einen Schaufensterbummel machte, nachdem sie den Modesalon verlassen hatte. Dr. Faßler ließ den Wagen anhalten, starrte aus dem Fenster und sagte sich, daß es solch eine Frau nur einmal gebe. Es mußte Anuschka Abels sein, jeder Zweifel war ausgeschlossen. Er verließ seinen Wagen, beorderte ihn allein zum Hotel und stellte sich neben Anuschka vor das Schaufenster eines Korsettgeschäftes.
»Sehe ich recht?« fragte er. »Solch ein Zufall! Gnädige Frau auch in Köln?« Er sah in die großen, erstaunten Augen Anuschkas, und er wäre kein Mann gewesen, wenn ihm unter diesem Blick nicht wohlig warm ums Herz geworden wäre. »Faßler. Roland Faßler. Ich hatte die Ehre, in Ihrem Hause …«
»Ach so.« Anuschka nickte. Frau Dr. Faßler, dachte sie. Die Frau, die gefragt hatte: »Waren Sie Kommunistin?«
»Ihr Gatte ist in der Nähe?« fragte Dr. Faßler vorsichtig.
»Njet.« Anuschka lächelte entschuldigend. »Nein«, wiederholte sie. »Martin ist bei Freund von Geschäfte. Isch suchen Kleid.«
»Sagen Sie ruhig Njet oder Nitschewo oder Karascho«, sagte Dr. Faßler mit jugendlichem Elan und kam sich witzig und charmant vor wie nie in den letzten Jahren. »Ich höre es gern, das Russische, vor allem, wenn es von so zauberhaften Lippen kommt. Darf ich gnädige Frau zu einem Täßchen Tee einladen?«
»Tee aus
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