Ein Mädchen aus Torusk
Buchhalter, Handwerker, Handelstreibende, Journalisten, Beamte, Geschäftsleute. Es ist heute so, daß die Beseitigung eines unliebsamen Menschens unter 1.000 DM kostet. Seien Sie vorsichtig, das kann ich Ihnen nur anraten. Man wird Sie nicht unmittelbar belästigen, aber da gibt es angeschnittene Autoreifen, die dann auf der Autobahn platzen; da gibt es Zeitzünder im Kofferraum; da gibt es unter Strom gesetzte Türklinken; da gibt es Giftgas, das aus den elektrischen Steckdosen strömt … man ist heute ungeheuerlich geistreich in der Erfindung von Tötungsarten.«
Martin Abels versprach, auf sich und noch mehr auf Anuschka aufzupassen. Vor dem großen Gebäude des Verfassungsschutzamtes allerdings stieg er unbesorgt in seinen Wagen. Am Steuer hatte die ganze Zeit Diener Alfons gewartet. »In vier Wochen etwa heiraten wir«, sagte er zu Anuschka, als sie aus Köln hinaus auf die Autobahn fuhren. »Hast du einen Wunsch, wohin die Hochzeitsreise gehen soll?«
»Ja, Tinja.« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und war unendlich glücklich. »Wir bleiben in unserem Haus – ganz allein.«
*
Für Inken Holgerson kam nun eine Zeit der inneren Spannung. Sie hatte den Schock überwunden, Martin Abels endgültig an Anuschka verloren zu haben. Sie hatte erkannt, daß dieses Mädchen aus Torusk nicht nur die Stärkere war, sondern wirklich und allein zu Martin Abels paßte. Nie hatte sich Inken vorher ein Bild von diesem sibirischen Mädchen machen können. Eine Jakutin, hatte sie gedacht. Gelbgesichtig, klein, gedrungen, wie ein Hunnenreiter, mit strähnigen schwarzen Haaren, Schlitzaugen und einem immerwährenden Lächeln … und sie hatte Martin nie verstanden, daß er sich so weit verirren konnte, ein Steppentier – wie sie Anuschka früher einmal nannte – ihr, der schönen, in Kultur eingebetteten Inken Holgerson, vorzuziehen.
Nun sah sie Anuschka und war selbst als Frau und Feindin fasziniert von ihr. Aus ihrer natürlichen Gegnerschaft wurde so eine tiefe innere Freundschaft, die Inken um so weniger verstand, als sie sich gegen dieses Gefühl der Zugehörigkeit wehrte und sich immer wieder sagte: Sie hat dir Martin weggenommen. Du mußt sie hassen.
Sie konnte es nicht. Und als die Bremer Gesellschaft geschlossen die Abels-Villa verließ und preußische Tradition zelebrierte, zerbrach in ihr das letzte Hindernis. Sie war zu Anuschka gehumpelt, hatte sie in ihre Arme gezogen und sie getröstet.
Als Martin aus Köln zurückkam, brachte er die Nachricht mit, daß man in der Orthopädischen Universitätsklinik bereit sei, eine Operation zu wagen. Professor Dr. Hollenbach hatte mit seinen Oberärzten lange vor den Röntgenbildern gesessen und schließlich nur eine Möglichkeit gesehen. Es war eine sehr gewagte Operation, für die keiner eine Heilungschance voraussagen konnte.
Abels sprach darüber mit Inken allein. Sie gingen durch den Park spazieren, Inken ohne Stock, da Abels sie untergefaßt hatte und stützte.
»Ich will dir ganz ehrlich sagen, wie es sein wird«, sagte er. »Eine Verkürzung des gesunden Beines lehnt jeder Chirurg ab. Der einzige Weg ist der, daß man das verkürzte Bein noch einmal bricht, dich wieder in einen Streck legt, den zersplitterten und damals ungerade zusammengewachsenen Schenkelknochen so weit auseinanderzieht, bis das Bein die normale Länge hat, und dann wartet, ob sich neues Knochengewebe bildet und das fehlende Mittelstück zuwächst.«
»Und wenn es nicht wächst?«
»Das ist die Komplikation. Es kann sich eine Pseudarthrose bilden, es können andere Dinge geschehen, Entzündungen und so. Ich bin kein Arzt, und in Köln hat man mir alles erklärt – es war eine ganze Menge an Bedenken. Um es kurz zu sagen: Der letzte Weg ist die Amputation. Mit dieser letzten Möglichkeit müssen wir rechnen, wenn wir an diese außerordentlich schwierige Operation herangehen.«
Inken sah schweigend über das Blumenbeet und dann mit einem Ruck ihres Kopfes zu Abels. »Und was meinst du, Martin?«
»Laß dich operieren. Wage es, Inki.«
»Wenn du es sagst – ich tue es. Du gibst mir die Kraft dazu.«
»Es wird vielleicht ein halbes Jahr dauern. Geduld ist dabei alles. Aber es wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht wieder auf einen Tennisplatz bekämen oder auf den Rücken eines Pferdes.«
»Ich danke dir, Martin«, sagte Inken Holgerson leise. »Ich bin eigentlich froh, daß alles so gekommen ist. Eine richtige Freundschaft ist auch was wert.«
Sie blieb stehen, hob sich auf die
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