Ein Mädchen aus Torusk
Zehenspitze des gesunden Beines und küßte Abels auf den Mund. Als sie schwankte, umfing er sie und hielt sie fest. Von weitem sah es aus, als versinke ein Liebespaar in die Grenzenlosigkeit des Glücks.
Hinter einem Busch stand Anuschka und starrte durch die frischbelaubten Zweige. Oh, sie hatte gelernt, wie man lautlos anschleicht, gegen den Wind, mit dem die Witterung davongetragen wurde. Gegen jedes Geräusch, das verriet, gegen jedes Knacken trockener Zweige. Gegen jeden knirschenden Schritt. In den Wäldern von Torusk hatte man es seit Generationen den Hamstern und Füchsen, den Wölfen und Tigern abgelauscht. Man glitt über den Boden, der Körper bekam eine merkwürdige Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, beim Laufen berührte nicht der Fuß den Boden, sondern nur die Spitze des Schuhes, und alle Kraft lag in den Wadenmuskeln und in den Schenkeln.
So war auch sie Martin hinter den Büschen nachgeschlichen, und nun stand sie da, sah, wie sich Tinja und Inken küßten, sich umarmten, sich aneinander drückten, wie es Tinja sonst nur bei ihr getan hatte. Ihr Herz begann zu bluten, aber es kam keine Traurigkeit in sie hinein, sondern eine Kälte, wie die des ersten Eiswindes aus dem Norden, der die Wasser der Lena erstarren läßt, als würden sie gelähmt vor Entsetzen.
Man steht einem Tiger gegenüber, dachte sie. Was macht man? Man tötet ihn. Ein Wolf begegnet einem – man tötet ihn. Ein Bär bricht aus dem Unterholz – man tötet ihn. Sie, diese schöne, stolze Frau, ist alles. Wolf und Bär. Sie nimmt mir Tinja weg … also muß sie getötet werden! Das ist ein altes Gesetz, über das man nicht lange nachdenken muß.
Anuschka blieb hinter dem Busch verborgen, als Abels und Inken quer über den Rasen zum Haus zurückgingen. Sie hörte, wie Abels ihren Namen rief, und sah, wie Diener Alfons auf die Terrasse kam und bedauerte, die ›Gnädige Frau‹, wie er Anuschka bereits nannte, nicht gesehen zu haben.
Sie gingen ins Haus. Die Glastür klappte zu. Anuschka rannte leichtfüßig zurück, hinüber zum Tennisplatz Martins. Von dort kam sie aufrecht und langsam zum Haus zurück und sah, wie Martin hinter dem Fenster des Salons stand und ihr zuwinkte. Sie hob die Hand und winkte zurück, sie lächelte sogar, aber sie dachte dabei: Sie heucheln alle. Meine Liebe, meine Gute, meine Beste, ein Gegacker wie auf einem Hühnerhof, ein Spreizen bunter Federn wie bei einem Pfau, ein Stolzieren wie die Truthähne – und dahinter verbirgt sich die Lüge und die Leere satter, zu satter Gehirne.
Wie hatte Tinja gesagt? Die Lüge ist der Kitt unserer Gesellschaft. Absolute Wahrheit wäre eine Katastrophe, an der die Welt zugrunde ginge.
Sie warf den Kopf in den Nacken, strich die langen schwarzen Haare aus dem schmalen Gesicht und trat über die Terrasse ins Haus.
Inken humpelte ihr entgegen, ihr Gesicht strahlte.
»Ich lasse mich operieren!« rief sie Anuschka entgegen. »Martin hat mich dazu überredet! Ich bin so glücklich, daß ich ihn geküßt habe! Du verstehst das doch, Anuschka?«
Sie nickte, und ihr Herz blutete erneut.
Am Abend, als sie allein waren, als sie im Bett lagen und nur der Mondschein bleich eine Straße ins Zimmer zeichnete, kroch sie zu Martin und verbarg ihr Gesicht in seiner Achselhöhle.
»Ich bin dumm, Tinja«, flüsterte sie, und er verstand sie kaum. »Aber ich bin so dumm, weil ich dich liebe.«
Er antwortete nicht. Er sah auf die silbrige Mondstraße, die vom Fenster längs durch das Zimmer bis zu seinem Nachttisch führte. Ich habe ihr etwas verschwiegen, dachte er. Morgen gibt Konsul Villigst eine Gesellschaft. Zum erstenmal ist ein Martin Abels nicht dazu eingeladen. Der Boykott hat bereits begonnen. Auch Holgerson hat man keine Einladung geschickt – er nahm es tragisch, wie Inken erzählte, und hatte sie angefleht, sich von Martin zu lösen.
Die alte Weisheit, daß das Geld die Welt regiert, wurde hier bewiesen. Auch zur Jahreshauptversammlung des Golfklubs hatte er noch keine Einladung bekommen. Er hoffte auch nicht mehr darauf.
»Anuschka –«, sagte er leise.
»Ja, Tinja?«
»Könntest du dir denken, daß wir ein neues Haus haben … irgendwo im Süden, am Meer vielleicht, oder an einem See … die Welt ist überall schön. In Italien, Südfrankreich, in der Schweiz. Auch auf eine Insel könnten wir ziehen. Nach Capri oder Elba.«
Anuschka schob den Kopf aus seiner Achsel herauf und sah ihn groß an.
»Willst du flüchten, Tinja?« fragte sie mit dem Instinkt
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