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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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damit es in ihrem Gedächtnis blieb. H-u-r-e – Dann steckte sie die Briefe zurück, schlich ins Schlafzimmer und trat auf den Balkon. So fand sie Martin, als er aus dem Bad kam. Er zog sich um, steckte die Briefe in den anderen Rock und verließ kurz darauf das Haus. Er fuhr zu Rechtsanwalt Dr. Petermann.
    Anuschka wartete, bis sie das Motorengeräusch von Martins Wagen nicht mehr hörte. Sie holte aus dem Kleiderschrank ein deutsch-russisches Wörterbuch und suchte unter H das merkwürdige Wort. H-u-
    Sie fand es sofort.
    Prostitutka hieß es auf russisch.
    Anuschka starrte auf das Wort. Ihr Blut wurde kalt, das Herz überzog sich mit Eis. Das hat man Tinja geschrieben, dachte sie und legte die Stirn auf den Tisch. Ich bin eine Prostitutka … ich, Anuschka Turganow aus Torusk.
    O diese Menschen! Diese reißenden westlichen Wölfe!
    Und Tinja glaubt es. Er ist weggelaufen. Zu seinem Rechtsanwalt. Er hat mich gar nicht angesehen, er hat mich unten stehen lassen, er hat mich zum Abschied nicht geküßt, wie immer. Sonst hat er mich immer geküßt, und wenn er nur in den Garten ging. »Anuschka«, hatte er jedesmal gesagt, »immer ist es ein Abschied. Jede Minute ohne dich ist ein grenzenloses Weggehen.« Und nun glaubt er es … wie ein Stein war er, wie ein gefrorener Kiefernstamm im Januar … Kalt … eisig kalt … und fremd wie durchziehende jakutische Jäger, die sich am Herd von Olga Turganowa für ein Stündchen aufwärmen …
    Sie schloß die Augen. Ihre Hände lagen auf ihrem schmalen Leib. Nichts ist mehr auf der Welt, als ich und du, dachte sie. Nicht du, Tinja … du bist jetzt weit, weit weg, so fern wie damals, als ich acht Jahre auf dich wartete. Aber ein Teil von dir ist bei mir und wird mich begleiten, bis ich sterbe. Du weißt es noch nicht, ich habe es dir nicht gesagt, und jetzt wirst du es auch nie erfahren.
    Vielleicht wird es ein Mann, so groß und stark und mutig wie du … oder ein Mädchen, das nichts fürchtet und einmal durch die Wälder reitet und das wilde Ren hetzt. Und ich werde am Herd warten und Kascha kochen oder Bortscht und an den Abenden ein Märchen erzählen von dem schönen, großen Jäger, der wie eine Sonne über mich gekommen ist und wie eine Sonne unterging und nie mehr am Himmel erschien –
    Sie erhob sich, wusch sich das Gesicht und ging hinunter in die Bibliothek. Dort machte sie die letzte Probe: Nacheinander rief sie alle an, die auf der Liste der Gäste gestanden hatten – Freifrau von Plessneck, Dr. Faßler, Frau Senator Pottbeck, Frau Konsul Villigst, Frau Dr. Hernoth, Frau Banneweg, Frau Wiegner. Überall war es das gleiche … sobald sie sich meldete und sagte: »Hier Anuschka Abels«, wurde ohne eine Antwort abgehängt. Eine Welle von Haß und Ablehnung spülte ihr entgegen. Und Anuschka wußte, daß sie dagegen hilflos war und daß es immer so bleiben würde, solange sie an Martins Seite war. Und nicht nur ihr galt diese Ablehnung – auch Martin Abels wurde ausgeschlossen. Er war zum Aussätzigen geworden, zu einem Gezeichneten, zu einem Todgeweihten mit der neuentdeckten Krankheit der sibirischen Fäulnis.
    Anuschka legte nach dem letzten Telefonanruf den Hörer langsam zurück. Sie ging auf ihr Zimmer, packte eine kleine Reisetasche, steckte aus einer silbernen Schatulle Geld zu sich, wieviel, das wußte sie nicht, aber es war ein Bündel Scheine. Lautlos, wie ein Jäger am Fuchsbau, schlich sie die Treppe hinunter und verließ das Haus durch die Gartentüre. Diener Alfons hörte es nicht, er stand in der Küche und richtete das Abendessen. Lachsschinkenschnitten auf Toast, Ei mit Kaviar, frisch gebeizter Norwegerlachs mit Meerrettichsahne. Dazu ein gut temperierter Mosel und hinterher Sekt.
    Er pfiff dabei ein fröhliches Lied, denn ein Koch muß probieren, was er serviert. Und Diener Alfons war ein verhinderter Gourmet.
    Als er die ersten Platten hinüber ins Speisezimmer trug und den runden Barocktisch eindeckte, stand Anuschka bereits auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofes und wartete auf den Zug, der sie nach Hannover und weiter nach Braunschweig bringen sollte, und von dort nach Helmstedt und weiter nach Marienborn.
    Dort wollte sie aus dem Zug steigen, auf den nächsten sowjetischen Offizier zugehen und sagen: »Genosse Leutnant. Hier bin ich! Anuschka Turganow aus Torusk an der Lena. Ich möchte zurück nach Sibirien – zurück in die Taiga zu meinen Leuten. Ich komme aus dem goldenen Westen … aber es ist kein Gold, Genosse, es ist nur billige

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