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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Frauen werden dich wie den Tod hassen – und du weißt, daß die Frauen in der Gesellschaft die große Macht sind, weil man ihr Geld erheiratet hat.« Dr. Petermann schob das Stempelkissen weg und faltete die beiden anonymen Briefe zusammen. »Ein Rat als dein Freund, Martin: Laß alles auf sich beruhen. Wer im Schlamm rührt, bespritzt sich mit Dreck. Lebe dein Leben mit Anuschka, aber erzwinge nichts, was unmöglich ist.«
    Martin Abels sah seinen Freund lange an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ludwig, ihr kennt mich alle so wenig – es ist erschreckend. Wenn ich herausgefordert werde, nehme ich an, aber ich ziehe mich nicht zurück. Ich schlage zurück, und so lange, bis einer auf der Strecke bleibt … sie oder ich.« Er nahm seinen Hut und setzte ihn auf. In seiner Bewegung lag etwas Endgültiges. Es duldete keine Widerrede. »Die Anzeigen kommen so schnell wie möglich in die Zeitungen. Und dann wollen wir sehen, wie es weitergeht.«
    Abels war schon an der Tür, als das Telefon klingelte. Petermann winkte ihn zurück und hielt den Hörer von sich.
    »Dein Diener Alfons. Er ist ziemlich aufgeregt.«
    »Mein Gott! Schon wieder eine Schweinerei?« Abels rannte zum Telefon und riß den Hörer aus Petermanns Hand. Er hörte stumm, was Alfons berichtete, und legte dann mit einer müden Bewegung auf. Dr. Petermann beobachtete mit Schrecken, wie Martins Gesicht fahl und alt wurde.
    »Was ist denn, alter Junge?« fragte er burschikos, um die peinliche Situation etwas aufzulockern. »Wieder ein Brief?«
    »Nein.« Abels setzte sich schwer auf den Stuhl zurück. Der große, muskelstarke Körper schien völlig ausgepumpt zu sein. »Anuschka ist weg.«
    »Was?« Petermann sprang entsetzt hoch. »Was heißt weg?«
    »Sie ist weggefahren. Mit einem Koffer. Irgendwohin. Sie … sie ist geflüchtet vor uns … vor uns westlichen Menschen, vor uns bornierten Hohlköpfen, vor uns Lügnern und Heuchlern – Sie … sie ist weg.«
    Sein Kopf sank auf die Brust. Petermann dachte, Martin sei ohnmächtig geworden, er stieß ihn an, rannte zum Schrank und holte Kognak. Abels schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand.
    »Sie haben es erreicht, Ludwig … sie haben mir Anuschka wieder genommen.« Sein Kopf flog hoch, in seinen Augen flammte es auf. »Aber das sage ich dir, Ludwig …«, seine Stimme war von einer unheimlichen Beherrschtheit – »wenn ich Anuschka nicht wiederfinde, werde ich zum reißenden Tiger. Wie ein tollwütiger Wolf werde ich diese sogenannte Gesellschaft anfallen.«
    »Aber das ist doch alles eine dumme Spekulation. Wo soll denn Anuschka hingehen?«
    »Zurück nach Rußland.«
    »Aber wie denn? Sie kommt doch über keine Grenze.«
    »In Marienborn … oder in Berlin.«
    »Ich werde sofort mit dem Polizeichef sprechen.« Petermann griff zum Telefon. »Man soll die Grenzübertritte genau überwachen. Eine Anuschka ist nicht zu übersehen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Der Interzonenzug ist noch nicht da. Ich kenne den Fahrplan genau, weil ich oft Klienten aus Berlin habe, die damit fahren. Wenn Anuschka mit dem Zug in die Zone will, kann sie jetzt erst in Hannover sein. Ich rede sofort mit dem Leiter des politischen Kommissariats.«
    Abels nickte schwach. Er hörte nicht zu, was Dr. Petermann telefonierte.
    Anuschka ist fort, dachte er nur. Sie ist geflüchtet vor den Menschen, unter denen sie eine neue Welt suchen sollte. Sie hat mich verlassen, weil sie sah, wie alle mich zu bekämpfen begannen. Sie will sich für mich opfern.
    Anuschka. Wenn es nicht anders geht, kehren wir gemeinsam zurück nach Torusk, in die Taiga, zur mächtigen Lena, zu Jossif Nikolajewitsch Samsonow und Victor Pawlowitsch Unjeski. Sie sind wirkliche Freunde … Sie haben ihren Kascha und ihren Bortscht, ihren Wodka und ihr Hasenfleisch, ihre Hütte und ihre Pelze, ihren Schlitten und ihre Rentiere. Und ihre herrliche Welt sind die Wälder, in der sie neben Gott allein der Herr sind.
    Laß uns zurückkehren nach Torusk, Anuschka.
    Dr. Petermann legte den Hörer auf. »Die Grenze wird ab sofort überwacht, Martin. Die Funkanweisung geht bereits hinaus.«
    Abels nickte. »Es ist gut, Ludwig«, sagte er schwach. »Aber auf weite Sicht werden wir an einer Frage zugrunde gehen, die niemand beantworten kann: Warum wird der Mensch, wenn es ihm gutgeht, bestialischer als ein Wolf?«

*
    In Hannover hatte Anuschka eine Stunde Aufenthalt, ehe der Interzonenzug aus Köln eintraf. Sie setzte sich in den Wartesaal, bestellte eine

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