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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und hatte tiefe Ringe unter den Augen. In allen drei kritischen Nächten hatte sie an Inkens Bett gesessen, ohne eine Minute zu schlafen. Eine ungeheure Energie, die Kraft, die in den Wäldern der Taiga zum Himmel ragt und die auf die Menschen überzugehen scheint, hielt sie aufrecht. Man sah ihr die Anstrengung an – aber das war nur äußerlich. Ihre innere Kraft war noch nicht verbraucht. Martin Abels war darin schwächer … in der dritten Nachtwache konnte er nicht mehr – er legte sich in den Lehnstuhl und schlief fest ein bis zum Morgen.
    »Ich werde Ihnen das nie vergessen, Anuschka«, sagte Holgerson mit belegter Stimme. »Und ich verspreche Ihnen, auch für Sie durch die Hölle zu gehen, wie es Martin getan hat.« Er zögerte, dann wurde er verlegen, beugte sich vor und küßte Anuschka auf die Stirn. »Sie sind ein wunderbares Mädchen«, sagte er danach.
    Und zu Abels sagte er draußen auf dem Flur, ehe er das Krankenhaus verließ und mit der Privatmaschine nach Bremen flog: »Ich verspreche Ihnen, Martin, daß ich in Bremen aufräumen werde. Wer auch nur einen leisen Ton gegen Anuschka sagt, fliegt bei mir raus! Sie wissen, welchen Einfluß ich habe … ich werde ihn voll in die Waagschale werfen.« Er gab Abels beide Hände und drückte sie fest. »Auch wenn mein Vaterherz dabei zuckt, muß ich es Ihnen sagen, Martin: Anuschka ist die einzig richtige Frau für Sie. Sie konnten gar keine andere haben. Auch Inken nicht.« Holgerson atmete tief auf. »Es war mir ein Bedürfnis, Ihnen das zu sagen. Und ich werde dafür sorgen, daß auch andere Kreise genauso denken.«
    In Bremen hatte Dr. Petermann die Tombola vertagt und unterdessen die Begründung schriftlich herumgeschickt. Das große Mitleid war auf Seiten Inken Holgersons, aber man begriff nicht, wieso Anuschka, diese Halbwilde, am Bett sitzen mußte, wo es ihr doch recht sein mußte, daß ihre Rivalin bei Abels auf solch einfache Weise aus der Welt schied.
    Konsul Holgerson wurde auch sofort nach seiner Rückkehr von allen Seiten bestürmt und gefragt. Man sprach überschwengliche Genesungswünsche aus, ließ durch einen internationalen Blumenring riesige Gebinde in die Klinik schicken, und Frau Senator Pottbeck war es, die mutig auf den Kern der Dinge einging und sagte: »Wie nimmt denn Inken die Anwesenheit dieser Russin auf?«
    Holgerson schob die Unterlippe vor. Der Trompetenstoß zum Angriff war geblasen. Er sah, wie Frau von Plessneck hektische Flecken am Hals bekam und Frau Dr. Faßler kurzatmig vor Spannung wurde.
    »Diese – Russin –« sagte Holgerson gedehnt und legte auf das Wort Russin einen dicken Akzent, »ist der einzige Mensch, den ich – natürlich neben Abels – in der Nähe meiner Tochter dulde!«
    »Oh!« Frau Senator Pottbeck sah hilfesuchend zu ihrem Mann. Aber dieser war damit beschäftigt, seine Zigarre abzuschneiden, was unter Männern eine fast heilige Handlung ist, bei der jede Störung verbeten wird. »Sie meinen …«
    »Ich meine, daß Anuschka – Sie sehen, ich sage nicht Russenweib oder Steppentier oder Sibirienmädchen – im Vergleich zu der landläufigen Ansicht über den Wert eines Menschen in eine himmlische Höhe gehoben werden muß.«
    »Wie bitte?« fragte Frau Dr. Faßler spitz zurück. Dr. Faßler bemühte sich vergebens, vom Fenster her Zeichen zu geben. Halt den Mund, Mathilde, dachte er böse. O Gott, wenn sie doch nicht die Tochter eines Millionärs gewesen wäre!
    »Wollen Sie etwa wieder den abgegriffenen Begriff des ›Engels aus Sibiriern‹ praktizieren?« fragte Frau Dr. Faßler mutig. Holgerson schüttelte den Kopf.
    »Sie haben recht – dieser Begriff ist zu sehr strapaziert worden. Ich möchte sie anders nennen: Sie ist ein Mensch! Sie ist das, was ein Mensch sein sollte.« Holgerson sah sich ostentativ um. »Bis zur Ankunft Anuschkas wußte ich nicht, was das ist, denn ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt.«
    Das betretene Schweigen, das seinen Worten folgte, bewies ihm, daß man ihn verstanden hatte. Als erster räusperte sich Senator Pottbeck.
    »Wann erwarten Sie Frau Anuschka zurück?«
    »Ich weiß es nicht. Sie bleibt bei Inken, bis man es verantworten kann, meine Tochter allein zu lassen.«
    »Und Herr Abels?«
    »Bleibt auch da.«
    Der kleine Gesellschaftsabend verlief daraufhin still und endete kurz vor Mitternacht. Als letzter ging Baron von Plessneck. Er hatte den Abschied hinausgezögert. Seine Frau saß schon wartend im Wagen und der Chauffeur hielt die Tür auf,

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