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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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geworden war? Wie die Zeit wegrast. Ein Jahr fast schon. Jener Abend vor dem Hause Martins, der sie zu einer Verzweiflungstat trieb, vor der sie hinterher selbst schauderte.
    »Weißt du, daß ich mich töten wollte?« fragte sie leise.
    Anuschka beugte sich über sie. »Nein.«
    »Als er mir sagte, daß er nur dich liebt und dich aus Sibirien herausholen wolle, habe ich versucht, mich mit dem Auto umzubringen. Ich war völlig kopflos. Wärest du damals schon hiergewesen, ich hätte dich zerrissen.«
    »Armes Inken.« Anuschka streichelte über die schweißige Stirn der Kranken. »Isch nicht kann dafür, daß ich läbe …«
    Von dieser Stunde an fühlten sie sich miteinander verbunden, und als dann die Besucher aus Bremen kamen, mit Blumenkörben, mit Fruchtschalen, mit einstudierter Herzlichkeit, zeigten sie ihre Freundschaft so deutlich, daß man Anuschka doppelt hofieren mußte, um Inken Holgerson die gebührende Achtung darzubringen.
    Nun war die Hochzeit Martins und Anuschkas. Sie fand außerhalb Bremens in einer kleinen Dorfkirche statt. An der Unterweser, zwischen Deichen und Moorgräben, Kanälen und Bächen hatte Abels einen Bauernhof gekauft, den er verpachtete, auf dem er aber immer einige Zimmer für den Eigengebrauch reserviert hielt. Hier, abgeschieden von der lauten Welt, umgeben von der Stille trockengelegten Moores, zwischen Wacholderbüschen und schlanken Birkenwäldern, unter einem weiten blauen Himmel, der ahnen ließ, wie unbegreifbar die Unendlichkeit ist – hier wollten sie drei Wochen ganz für sich allein verleben, durch Moor und Heide reiten, in der Sonne liegen und den Grillen zuhören.
    Nur Dr. Petermann, Heinz Fernholz, Holgerson, zwei Direktoren der Abels-Werke und der Pachtbauer waren bei dieser Hochzeit zugegen. Der Pfarrer sprach einige Minuten von der Kraft der Liebe, die keine Grenzen kennt, dann fehlten ihm die Worte, das auszudrücken, was in Wirklichkeit geschehen war. »Ihr werdet erkannt haben«, sagte er deshalb, »daß immer, auf allen euren Wegen, Gott neben euch gestanden hat. Ohne seine schützende Hand wäre dieses große Menschenabenteuer nicht möglich gewesen. Wir sollten ihn daran erkennen und ihm auf immer und ewig dankbar sein.«
    Dann läuteten die Glocken der kleinen Dorfkirche, die Ringe wurden gewechselt, die winzige Orgel spielte ›Jesu, geh voran auf der Lebensbahn‹, die Trauzeugen gratulierten – aber die Gedanken Anuschkas und Martins waren weit weg … viele tausend Werst weit in einer Blockhütte am Rande der Wälder, die bis zur Lena reichten … das Haus der Turganows in Torusk … die Trauung vor der alten Ikone, Hauptmann Samsonow als Trauzeuge, der alte, in Verbannung lebende Pope mit den Handbinden aus zerschnittenen Handtüchern und den darauf gemalten Kreuzen, der zitternde Gesang von Olga Turganowa und das Gebrumm Pawel Andrejewitschs, das frische Brot, mit Salz bestreut, und das Ohr des Fuchses … und auf dem Herd brutzelte ein Braten, der Geruch sauren Kohls zog durch das ganze Haus.
    Anuschka senkte den Kopf und lehnte ihn gegen Martins Schulter. Mamuschka, dachte sie, nun bin ich wirklich Tinjas Frau. Und ein Kindchen werden wir haben, ein schönes, rosiges Kindchen. Pawel Jossif werden wir es nennen, wenn es ein Junge wird. Pawel wie Papuschka, Jossif wie Hauptmann Samsonow.
    Jetzt ist Juni. Die Birken haben geblüht. Im Garten leuchten die Rosen, die Lupinen strecken ihre Kerzen hoch, die Sonnenblumen schaukeln an langen Stengeln im Wind. Und Iwan Iwanowitsch Letkow ist wieder stolz, als einziger von Torusk im Garten Mais zu haben, mit dem er dann seine Hühner füttert. »Genossen!« hat er einmal gesagt, der einfältige Mensch. »Wenn es eine Prämie für den gelbsten Eidotter gäbe – Letkow, der ich bin, würde sie bekommen. Und nur wegen des Maises. Ihr solltet alle Mais anbauen, Brüderchen!«
    Aber das lohnt sich nicht, denn es gibt wenig Hühner in Torusk. Wozu auch? Ein Jägerdorf lebt vom Wildfleisch. Aber Genossen, weißes, zartes Fleisch? Unsere Zähne wollen was zu reißen und zu beißen haben. Und eine Rentierkeule ist ungleich schöner als ein zartes Hühnerbeinchen.
    Juni in Torusk. Es ist heiß. Manchmal dampfen die Wälder wie dicke Männer in der Banja. Und manchmal brennt es auch. Dann kommen die ängstlichen Tiere bis nach Torusk. Füchse, Bären, Hasen, Marder, wilde Rene, Hirsche, manchmal sogar ein Tiger. So wie damals, als plötzlich ein Tiger auf dem Dorfplatz stand, und Josef Wladimirowitsch Nilin, der

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