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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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die aufstampfte und nein sagte. Und dann war da noch seine Frau Talka und vor allem die Oma Sumja, die bestimmten: Der Fremde wird erst gesund gepflegt, und dann sehen wir weiter.
    Oma Sumja war darin unerbittlich. Sie drohte sogar mit Schlägen, diese mummelnde Greisin, als Chingai-Butu aufsässig wurde und in glühenden Worten schilderte, wie schön er sich eine Enthauptung auf dem Dorfplatz vorstellte.
    »Was bist du nur für ein Mensch!« sagte Sumja, die Greisin. »So etwas habe ich geboren und großgezogen? Ich sollte mich aufhängen über diese Schande! Geh weg, du Mißgeburt!«
    Von diesem ganzen Streit spürte Martin Abels nichts. Ab und zu kehrte er in einen Zustand zurück, der ihn Personen und Dinge seiner engsten Umgebung erkennen ließ – aber er vermochte nichts zu hören oder auch nur einen Finger zu bewegen. Dann verlor er sich wieder in die Bewußtlosigkeit, schlief anschließend und wachte nach drei Tagen auf, fieberfrei und wie ausgeglüht.
    Burkja, das schöne, mollige Mädchen, pflegte ihn rührend. Er bekam zu trinken, er aß einen süßlichen gelben Brei und – als er wieder richtig schlucken konnte – kleine Fleischstückchen in einer hellbraunen, mehligen Soße. Wie er später erfuhr, war es ein Spezialgericht der guten Oma Sumja, dem sie große Kraft und Gesundheit nachsagte: Getrocknete und später in Maiswein wieder aufgequollene nackte Raupen mit einer Soße aus getrockneten und zu Mehl zerriebenen Heuschrecken.
    So schrecklich es für europäische Ohren klingt, und obwohl auch der Magen Martin Abels' noch lange hinterher zu zucken begann bei dem Gedanken daran, was er gegessen hatte – die Kraftnahrung von Oma Sumja bewährte sich. In fünf Tagen war Martin Abels wieder voll bei Kräften und machte die ersten Schritte an der Hand Burkjas.
    Chingai-Butu war sehr zufrieden.
    »Und nun die Enthauptung, Mutter Sumja«, bettelte er. »Ihr habt euren Spaß gehabt, nun kommt der meine!«
    Im Dorf wartete man gespannt, was der russisch sprechende Onkel Churu aus dem Fremden herausquetschen würde. Daß er ein Russe war, stand außer Zweifel. Er war weiß, hatte blonde Haare und den kraftvollen, großen Körperbau der Männer aus dem sagenhaften Land an der Wolga. Ab und zu sah man sie auf Bildern in den Zeitungen, die die Soldaten herumliegen ließen und die dann im Dorf von Hand zu Hand gingen, nur der Bilder wegen, denn lesen konnten die wenigsten.
    Martin Abels war froh, daß endlich jemand zu ihm kam, der russisch sprach. Mit Burkja, Mutter Talka und Oma Sumja verständigte er sich nur durch Zeichen und Grinsen. Chingai-Butu sprach zwar mit ihm, aber es waren nur ein paar Worte Russisch, von denen das auffälligste und rätselvollste ›tot‹ war. Er sagte es immer wieder und trug dabei ein leuchtendes Gesicht zur Schau.
    Onkel Churu war ein höflicherer Mensch als sein Neffe Butu . Er fiel nicht gleich ins Haus mit der Todesnachricht, sondern begrüßte Abels vornehm mit »Guten Tag, mein Herr! Wie fühlen Sie sich? Darf ich Ihnen etwas anbieten lassen?« Dann, nach einem Essen mit Hammelbraten und Maisbier, erzählte Onkel Churu eine Geschichte. Er berichtete von seiner Arbeit auf einer Sowchose bei Ulan-Ude, südlich des Baikalsees, von seinen lieben Genossen, die ihn mongolische Sau nannten und in den Hintern traten und von dem Verwalter, dem Natschalnik Grossenko, der Onkel Churu zehn Tage in Dunkelhaft einsperrte, weil drei Sack Mehl fehlten, die er selbst, Grossenko, an Ludmilla Poponewa verschenkt hatte, damit sie ihm, dem fetten Bullen, eine Nacht gönnte. Und Onkel Churu sollte der Dieb sein, so stellte man es jedenfalls hin.
    »Verstehen Sie, mein Herr, daß aus diesen Gründen ein Russe bei uns nicht gut gelitten ist. Und dann auch noch ein Spion, der für dieses Land reist.« Onkel Churu war so höflich, bei den nächsten Worten traurig zu blicken. »Sie werden Verständnis haben, mein Herr, wenn wir Sie morgen mittag im Rahmen eines Volksfestes enthaupten.«
    »Es tut mir leid«, sagte Martin Abels mit der gleichen asiatischen Höflichkeit und verbeugte sich vor Onkel Churu, »ich habe kein Verständnis dafür.«
    »Das ist bedauerlich, mein Herr.«
    »Ich bin kein Russe.«
    Onkel Churus geschlitzte Augen rollten in den sie umgebenden Fettpölsterchen. Er war sehr verblüfft, man konnte es nicht mehr verbergen. »Kein Russe?« fragte er enttäuscht.
    »Nein, ich bin ein Deutscher.«
    Onkel Churu schwieg eine ganze Weile und sann nach. Ein Deutscher. Das war, als wenn man

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