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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vorgestreckt, als könne sie den Lastwagen aufhalten, wie sie stolperte und in den Schnee fiel und wie sie immer noch schrie: »Ich liebe dich! Ich liebe dich! Komm wieder –« Das war nicht wegzuwischen, das war stärker als jedes logische Denken, das war treibender als das ›Halt‹ der Vernunft, das er im Inneren hörte.
    Am frühen Morgen erwachte als erste Oma Sumja. Sie rief »Heij! Heij!« und weckte damit die anderen. Man aß kalten, etwas ranzigen Speck, einen Fladen Mais, trank Tee, mit Schnaps gemischt, verteilte sich dann in die Gerölle, verrichtete die Notdurft und war schließlich bereit weiterzuziehen.
    Am Abend, nach einer mühsamen Umgehung des Ortes Suche-Bator, standen sie nahe der russischen Grenze genau an der Stelle, die Onkel Churu beschrieben hatte. Ein kleiner gelbbrauner Fluß schlängelte sich durch eine Sumpflandschaft, die einem Dschungel glich und von schrecklich quakenden Riesenfröschen und hell summenden, schillernden Libellen bevölkert wurde.
    Onkel Churu befahl Halt, unternahm einen Alleingang von über einer Stunde und kam mit der Nachricht zurück, daß keine russischen Patrouillen unterwegs seien. Diese weiche Grenze sei zu weich, als daß sie bewacht werde. Besser als zehn Bataillone schützte der Sumpf an dieser Stelle die Grenze Rußlands.
    Onkel Churu legte drei Riesenfrösche auf den Boden. »Ich weiß einen Weg, der hindurchführt. Es ist der gleiche Weg, den ich genommen habe, als ich aus Rußland geflüchtet bin!«
    Dann demonstrierte er, wie man einen qualvollen Hungertod umgehen könne, wenn man sich vom Reichtum des Dschungels ernähren würde. Er entzündete ein Feuerchen, ließ einige Holzstücke zu heißer Asche werden, legte die Riesenfrösche hinein und ließ sie so eine halbe Stunde gar ziehen. Als er sie wieder ausgrub, waren sie knusprig und rochen nach gebratenem Ziegenfleisch.
    Die Familie Chingai aß mit größtem Appetit und lautem Schmatzen, was Onkel Churu als eine Ehre ansah. Martin Abels verzichtete auf die Frösche. Aber er merkte sich die Art der Zubereitung. Ehe man vor Hunger stirbt, würde man auch Sumpffrösche essen.
    Der Abschied war rührend. Chingai-Butu gab Abels die Hand, Oma Sumja segnete ihn, und Burkja, das schöne Mädchen, stellte sich auf die Zehenspitzen und rieb ihre kleine, kalte Nase an dem Gesicht Martins. Sie küßte ihn auf mongolische Art, und es war die größte Auszeichnung, die er empfangen konnte. Darauf weinte sie, dicke Tränen quollen aus den geschlitzten Augen, sie rannte weg und versteckte sich wie ein sterbender Hund, der die Einsamkeit sucht.
    »Los!« sagte Onkel Churu ergriffen. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, mein Herr.«
    Mit einem Sack voll Kleider, einem mongolischen Dolch als einziger Waffe, seiner fleckigen Landkarte und einem Lederbeutel voll reinen Wassers ging Martin Abels hinein in den Dschungel. Noch einmal drehte er sich um, ehe er im hohen Schilf und Gestrüpp verschwand.
    Die Familie Chingai, ohne Burkja, stand auf einer Anhöhe und winkte ihm zu. Es sollte für lange Zeit das letzte Bild einer Andeutung von Zivilisation sein, das Martin Abels sah. Ein Karren, ein langgehörnter Ochse davor. Menschen, die ihm Glück wünschten, in deren Gesichtern er Mitleid ahnte.
    Der Dschungel schlug über ihm zusammen. Martin Abels verfolgte den Weg, den ihm Onkel Churu geraten hatte: Immer im Flußbett wandern, auch wenn nach einer Stunde die Kälte in den Knochen hochkroch und das Herz zu schmerzen begann. Meine Füße werden ein Schwamm, dachte Martin Abels. Sie werden breiig, sie lösen sich im Wasser auf wie durchgeweichte Pappe.
    Aber es gab nur diesen einen Weg nach Rußland. Links und rechts von ihm war der Sumpf, eine riesige, breiige Fläche, die alles in ihre Bodenlosigkeit hinabsaugen würde, was sie betrat.
    Onkel Churu wartete eine Stunde, dann befahl er die Rückfahrt.
    »Er kommt nicht zurück!« sagte er, und es klang fast enttäuscht. Er hatte es Burkja gewünscht, daß der Deutsche umkehren würde. Wie das arme Vögelchen weinte, welch rote Augen es hatte. Ein Jammer war's! »Die Geister mögen ihm gut sein.«
    Oma Sumja machte ein paar geheimnisvolle Zeichen. Der Glaube der Ahnen an die guten und die bösen Geister brach in dieser Stunde wieder durch.
    Hätte sie einen Hammel hier gehabt, sie hätte ihn jetzt den Geistern geopfert. Aber die Ahnen sahen auch so, wie groß ihre Bitte war.
    Langsam rumpelte der Ochsenkarren zurück. Er nahm einen anderen Weg, er fuhr nach Banga. Chingai-Butu

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