Ein Mädchen aus Torusk
gesagt hätte: Er kommt vom Mond. Man kannte die Deutschen aus Berichten. Sie hatten mit den Russen gekämpft und verloren. Man wußte noch, daß sie weit oben im Norden wohnten, daß sie Häuser aus Stein hatten, aber – wie die russischen Zeitungen schrieben – keinerlei Kultur. Ein armes Volk also.
Onkel Churu seufzte. »Wie kann man das glauben?« fragte er, denn er war ein vorsichtiger Mann.
Abels zeigte seinen Paß. Wenn Churu auch nicht verstand, was er las, soviel erkannte er, daß es ein amtliches Dokument war, daß es nicht russisch war und daß es ordnungsmäßige Stempel trug. Allein schon das genügte. Ein Stempel ist der Beweis der Obrigkeit. Onkel Churu hatte es bei der Revolution erlebt. Da saß ein Kommissar an einem Klapptisch und stempelte ununterbrochen Todesurteile. Bumm – ein Toter. Bumm – ein Toter. Und so fort. Eine Woche lang. Seitdem hatte Churu eine höllische Achtung vor einem Stempel.
»Wir werden Ihnen helfen, mein Herr«, sagte Churu und erhob sich vom Essen. Er winkte dem erwartungsvollen Chingai-Butu, verließ die Jurte und stellte sich draußen mit einem tiefen Seufzer auf.
»Er ist kein Russe!« sagte er mürrisch.
Chingai-Butu fuhr sich mit beiden Händen in die Haare.
»Dann sag, daß er einer ist. Jeder wird es glauben! Du willst uns um die schöne Hinrichtung bringen?«
»Er ist ein Deutscher, Butu!«
»Von mir aus ein Chinese!«
»Dann würde er hängen. Aber ein Deutscher. Lieber Junge, das geht nicht. Er wird dein Gast sein und dann werden wir ihn über die Grenze bringen. Sein Volk ist ein armes Volk, ärmer als wir. Wir sollten großzügig sein.«
So kam es, daß Martin Abels noch vier Tage lang im Dorf blieb und von allen Mongolen Geschenke erhielt, Essen und Trinken, einen Mantel aus Kamelwolle, Reithosen aus Schafsfell und eine spitze Mongolenmütze. Vor allem Burkja war es, die ihn umsorgte, die immer bei ihm war.
»Burkja liebt ihn«, sagte Chingai-Butu eines Tages zu Onkel Churu und Oma Sumja. »Er ist groß und kräftig. Sollen wir ihn hierbehalten? Burkja hat nichts dagegen, mit ihm unter einer Decke zu schlafen. Und auch er sieht sie begehrlich an. Man sollte sich das überlegen.«
Aber auch dieser Plan scheiterte. Martin Abels fühlte sich stark genug, seinen Weg nach Torusk fortzusetzen. Er sprach darüber mit Onkel Churu und fand ein offenes Ohr.
»Morgen fahren wir nach Suche-Bator!« entschied das Familienoberhaupt. »Wir alle. Von dort geht es über die Grenze. Immer einen Bach entlang. Ein bißchen Sumpf ist da, es ist ein schönes Örtchen, hinüber nach Rußland zu kommen.«
Das ganze Dorf begleitete den Ochsenkarren einige Kilometer weit. Dann rumpelte nur noch die Sippe Chingai über die staubige Straße; auf dem Bock mit dem Ochsen am Zügel Butu, vor dem Ochsen, mit kräftigen Schritten, Onkel Churu, im Karren, auf dem Stroh sitzend, Martin Abels und Burkja. Hinter ihnen, an die Karrenwand gelehnt, hockte Oma Sumja. Es war das letzte große Erlebnis ihres Daseins. Sie begleitete einen sagenhaften Deutschen an die russische Grenze. Mutter Talka war zu Hause geblieben. Es gab noch sieben andere kleine Kinder, die man nicht allein lassen konnte. Aber auch sie war mit den Dorfbewohnern ein Stück neben dem Karren hergegangen, das jüngste Kind in einem Fellsack auf dem Rücken tragend.
Zwei Tage waren sie nur unterwegs bis zur Grenze.
Sie schliefen auf freier Strecke im Karren, wühlten sich alle in das Stroh, rückten eng aneinander, wärmten sich gegenseitig und deckten sich mit Kamelhaardecken zu. Dabei stellte sich heraus, daß Oma Sumja fürchterlich schnarchte und Onkel Churu im Schlaf sprach.
Martin Abels konnte nicht schlafen. Er schälte sich aus der Umklammerung der Leiber, stieg über die Seitenplanken des Karrens und ging unruhig zwischen den Felsen hin und her. Der Ochse lag neben dem Karren, käute wieder und scharrte mit den langen Hörnern im Geröll.
In dieser Nacht spürte Abels, wie er begann, die Sinnlosigkeit seines Unternehmens einzusehen. Er wehrte sich gegen diesen Gedanken, aber je mehr er an die Strecke dachte, die vor ihm lag, an die über zweitausend Kilometer quer durch Sibirien, durch Eis und Schnee, vorbei am Baikalsee und dann den ganzen Lenalauf hinauf bis an den Rand der Tundra – eine Wanderung, die nie zuvor ein einzelner Mensch gewagt hatte –, empfand er große Lust, umzukehren.
Doch dann hörte er wieder die Stimme Anuschkas, wie sie neben dem Wagen herlief, durch den tiefen Schnee, die Arme
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