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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hatte. In der Mongolei verschollen. Er kam nie wieder.
    An diesem Vormittag rief sie ihren Vater an. Der alte Holgerson bekam rote Ohren vor Aufregung, als er die Stimme seiner Tochter hörte.
    »Ja, Inken«, sagte er. »Hier ist Papa.«
    »Kann … kann ich zu dir kommen, Paps?« fragte sie kläglich. Dann kamen keine Worte mehr … man hörte nur noch ein lautes Schluchzen.
    »Ich hole dich! Wo bist du denn?« rief der alte Holgerson.
    »In meiner Wohnung, Paps.«
    So geschah es nun doch, daß der Reeder Holgerson das Appartement seiner Tochter betrat, ein Haus, von dem er behauptet hatte, daß es für ihn in Hamburg nicht existiere.
    *
    Tschita ist eine große Stadt, gemessen an den Dreckflecken, die links und rechts der Bahn liegen und einen ehrbaren Namen haben, der ihnen gar nicht zusteht. In Tschita, drei Fünftel aus Holz, ein Fünftel aus Stein und im letzten Fünftel aus nicht mehr erkennbarem Material gebaut, gab es sogar so etwas wie städtisches Leben. Es fuhren einige Autos herum, an den Straßenkreuzungen standen Polizeibeamte und regelten den Verkehr, es gab ein pompöses Parteihaus mit einem Säuleneingang und einen Kulturpalast mit Gastspielen der Oper von Ulan-Ude. Dort hatte auch die stadteigene ›Tanzgruppe der Burjat -Mongolei‹ ihr Quartier. Aber sosehr man sich bemühte, mit dem Westen mitzukommen und die Straßen sauberzuhalten – sogar elektrische Straßenbeleuchtung leistete man sich –, Tschita blieb eine halb russische, halb mongolische Stadt, in deren Straßen die Ochsengespanne mit den langhörnigen Rindern vorherrschten und wo im Sommer sogar Kamelkarawanen durch den Staub zogen, der von den umgebenden Bergen in die Stadt wehte.
    Der Zug hielt mit vier Stunden Verspätung im Bahnhof von Tschita. Die Türen waren vereist. Von außen zerrten die Bahnbeamten, von innen drückten brüllend die Reisenden gegen die Türen, bis sich das Eis aus den Ritzen löste und die Waggons krachend aufsprangen. Auch Martin Abels stieg aus und ging zum Ausgang des Bahnhofs. Dort traf er auf einen Lastwagenfahrer, der Kisten mit Enten auslud.
    »Wo ist der Güterbahnhof, Genosse?« fragte Abels und spuckte in den verharschten Schnee.
    »Immer den Schienen nach. Und dann kommt ein Wasserturm. Hinter dem Wasserturm, da ist der Güterbahnhof.«
    »Danke, Genosse.«
    Es war nicht schwer, den Güterbahnhof zu finden. Nach einer Viertelstunde Weg ragte der Wasserturm über die Dächer, und dann stand Abels vor einem unübersehbaren Stapel Holz, Reihen an Reihen, die Gleise entlang, zwischen den Gleisen, ein Urwald geschlagenen Holzes, alles Rundstämme, von der Dicke eines Armes bis zum Umfang einer Zimmerhöhe. Kolonnen von Arbeitern und Arbeiterinnen in dicken Steppjacken rollten mit langen, angespitzten Eisenstangen die Stämme auf die Flachwagen, hatten Rutschen über die Seitenholme gelegt und ließen die Rundhölzer auf die Wagen rollen.
    Martin Abels blieb stehen und beobachtete das Beladen der Wagen. Niemand sah zu ihm hin. Es stört die Norm, wenn man glotzt. Die Minuten, die man braucht, einen Menschen genau zu betrachten, fehlen einem hinterher. Wie soll man sein doppeltes Soll erfüllen, wenn man sich um fremde Menschen kümmert?
    Langsam ging Abels zwischen den langen Güterzügen entlang. Er überkletterte Gleise, huschte unter den Wagen durch, las einige Namen an den Transportkästen und verlief sich in dem Gewirr der Holzstapel. Einmal traf er einen Vorarbeiter, der an den Güterwagen entlanglief und an jedem mit Kreide ein Kreuz machte. Fertig, hieß das. Kann rangiert werden.
    »Wohin geht der denn, Brüderchen?« fragte Abels und klopfte gegen einen Waggon mit Holz.
    »Nach Tygdinsk, Genosse.« Der Vorarbeiter war ein höflicher Mensch. Er blieb stehen, unterbrach seine Kreidestriche und unterhielt sich sogar. Das ist wirklich ein Beweis edler Menschlichkeit, denn gerade Vorarbeiter haben es besonders eilig, eben weil sie Vorarbeiter sind und nicht wieder Arbeiter werden möchten. Man kann das ja verstehen, Freunde.
    »Mit Holz?« fragte Abels ungläubig. »Ihr fahrt mit Holz nach Norden? Da kommt es doch her.«
    »Das macht die Planung, Genosse. Das verstehst du nicht.« Der Vorarbeiter war glücklich, einen dummen Menschen gefunden zu haben, den man aufklären konnte. Nichts ist nämlich für einen Menschen erhebender, als einen anderen belehren zu können. »Das Holz wird im Norden geschlagen, kommt hierher, wird hier registriert, von den Beamten in große Bücher eingetragen, dann

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