Ein Mädchen aus Torusk
würde also neue Kleider kaufen, nach seinem Täubchen Amalja jammern, das sich als ein Aas entpuppt hatte, und einen Schlag bekommen, wenn er das Fehlen des Pferdchens entdeckte. Wie er dies erklären sollte, war ein Problem für sich. Amalja Semperowa kümmerte sich nicht darum. Sie ritt durch die Nacht, dick in ihren Pelz vermummt, und überließ es dem Pferd, sich einen Weg durch den Schnee zu suchen.
Drei Stunden ritt sie so, als sie plötzlich angerufen wurde. Sie zuckte hoch, griff in den Pelz und umklammerte den Griff der Pistole im Schulterhalfter. Ein Satz kam ihr plötzlich ins Gedächtnis, und es war unbegreiflich, daß sie in dieser Sekunde an nichts anderes dachte, als an das, was Major Philipps ihr bei der Ausbildung gesagt hatte: »Wer zuerst schießt, überlebt! Denken Sie immer daran, Betty! Mit Skrupeln zu überleben, ist eine Utopie! Finger durchdrücken und genau zielen, das ist die ganze Weisheit. Und nicht denken: Da fällt ein Mensch um, das könnte dein Vater, dein Bruder, dein Geliebter sein. Er ist dein Tod, wenn du nicht zuerst schießt – das allein ist sicher!«
Vor ihr stand ein Mann in der Winteruniform der Roten Armee und hob den rechten Arm. »Stoij!« rief er unhöflich. »Wohin? Die Papiere! Weißt du nicht, daß Ausgangssperre ist? Weis dich aus, Genosse.«
Amalja Semperowa zog die Pistole aus dem Halfter. Sie sah sich um. Ein Mann allein kann nicht kontrollieren, es müssen mehrere sein. Aber es war keiner auf der Straße als er, seitlich an einem Schneehügel lehnten seine Skier.
Sie stieg vom Pferd und kam auf ihn zu. Schon als sie drei Schritte von ihm entfernt war, roch sie seinen Atem, und er roch gut nach scharfem Schnaps.
»Drei Rubel Strafe, Genosse!« schrie der Soldat. Jetzt sah man auch die breiten Schulterstücke, es war ein Unterleutnant, und alles sprach dafür, daß er die Straße als kleine private Einnahmequelle betrachtete. Wer wollte sich wehren, wenn ein Soldat ihn anhielt? Es gab nur Ungelegenheiten mit der Kommandantur. Also zahlte man lieber, wenn auch mit knirschenden Zähnen.
Amalja zog die Hand aus dem Pelz. Sie wunderte sich selbst, wie leise und trocken der Schuß klang und wie klaglos der Mann umfiel, vor ihren Füßen in den Schnee rollte und lautlos starb. Verwundert starrte sie auf den leicht qualmenden Pistolenlauf und dann auf den ausgestreckten Körper. Beim Fallen war ihm die Mütze vom Kopf gerutscht. Er hatte blonde Haare und ein junges, fast noch unfertiges Gesicht. Ein Offiziersschüler, dachte Amalja und steckte die Waffe zurück in den Schulterhalfter. Ein armer Junge, auf den jetzt seine Eltern vergeblich warten werden.
Die Worte Major Philipps' fielen ihr wieder ein. Nicht denken. Handeln! So handeln, wie es im Augenblick notwendig ist.
Notwendig war es jetzt, von der Straße wegzukommen. Der Weg nach Tora, der normale Weg über die Straße, war durch diesen Schuß verschlossen worden. Wenn man den Unterleutnant am Morgen vermißte, gab es Alarm in der ganzen Gegend.
Zurück nach Tygdinsk? Dort konnte sie Smulkow in die Arme laufen. Hinein in die Berge und wie ein einsamer Wolf nach Norden ziehen? Es war die einzige Möglichkeit. Noch etwas konnte sie tun, und sie überlegte, ob es nicht das beste sei: In den Bergen sich versteckt halten. Abwarten. Zeit gewinnen. Die alte Taktik der Russen: Nicht die Uhr ist maßgebend, sondern die Nervenkraft, warten zu können.
Amalja entschloß sich wirklich für das letzte. Sie band den Toten an der Seite des Pferdchens fest und ritt seitlich in das Gebirge. Es ging unendlich langsam, denn der Unterleutnant war schwer, und das Pferdchen war zu müde, um auch noch in flottem Schritt einen Toten durch den Schnee zu schleifen. Aber sie kamen doch voran … mit leisen Zurufen, mit Hackentritten, mit Schlägen gewannen sie die Einsamkeit des waldbewachsenen Stanowoj-Gebirges und tauchten unter in den Urwald vergessener Schluchten.
An einem Steilhang hielt Amalja Semperowa. Sie band den toten Körper los und rollte ihn den Abhang hinab in einen Buschwald. Der Körper wickelte sich in den Schnee, wurde zu einer Kugel und verschwand im Gestrüpp. Eine Weile stand Amalja oben am Hang und sah hinab, wo der junge Unterleutnant liegen würde, bis ihn im Frühjahr die ersten Beerensucher fanden.
Empfand sie Reue? Schauderte sie jetzt vor sich selbst, weil sie einen Menschen getötet hatte? Dachte sie daran, was aus der kleinen, schwarzhaarigen Betty geworden war, die sich mit zwölf Jahren vor dem
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