Ein Mädchen aus Torusk
zitternd. »Ich bin ganz allein.«
»Aufgeflogen?«
»Nein. Fallengelassen.«
»Schweine!« sagte Stepan dumpf. »Was nun?«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Hierbleiben können Sie nicht.«
»Das weiß ich.« Sie richtete sich auf, nahm das kleine Funkgerät und warf es gegen die Wand. Es klirrte und splitterte in dem Metallkasten. Die letzte Verbindung war endgültig zerstört. Stepan Michailowitsch nagte an der Unterlippe.
»Das hätten Sie nicht tun dürfen«, sagte er dumpf. »Ich weiß auch nicht, was mit Ihnen werden soll.«
»Noch bin ich nicht so weit, daß ich mich aufhänge oder den Wölfen zum Fraß vorwerfe!« Amalja warf die Decken von sich und sprang auf. »Wie weit ist es bis zur Grenze?«
»Zu weit!« Stepan schüttelte den Kopf. »Ob hundert oder tausend Werst … es ist immer zu weit für Sie. Sie kommen nicht hin. Legen Sie sich hin und schlafen Sie. Wir werden morgen darüber reden.«
Aber wer denkt an Schlaf in solcher Lage? Stepan wälzte sich auf seiner Ofenplatte unruhig hin und her, so daß Njuschka aufwachte und ihn umarmte. Aber Stepan drückte sie weg, was etwas ganz Neues war, seufzte und bemühte sich, stillzuliegen und doch dabei zu denken.
Amalja Semperowa ging im Stall hin und her. Ich bin tot, dachte sie. Ich bin für alle, die mich kannten, einfach tot. Verschollen. Ohne Spuren habe ich mich aufgelöst. Ein neuer Agent ist abgesetzt worden, und er hatte mehr Glück als ich. Und die Welt und das Leben gehören den Glücklichen, den Erfolgreichen, den Siegern! Sie haben es mir klar genug gesagt: Sie haben versagt! Das ist ein Todesurteil – man muß es nur begreifen.
Am Morgen kam Abels wieder zu den Felkanows. Er hatte dem Oberingenieur Duganoff vorgelogen, daß er einen Teil des Theodoliten vergessen habe, und Duganoff hatte gebrüllt: »Sofort holen, du Affe! Vergißt etwas! So ein Idiot! Man soll es nicht für möglich halten, wie die Gleichgültigkeit um sich greift! Los! Such es!«
Abels traf Amalja allein mit Stepan an. Njuschka war auf den Markt gegangen, um frische Butter gegen Eier einzutauschen.
»Eine schöne Scheiße!« sagte Stepan auf deutsch. »Hör dir das an! Und dann erfind was! Eine Woche kann ich sie bei mir verborgen halten, aber dann ist's aus. Mich geht die Politik nichts an. Ich will ruhig leben, immer was im Topf haben, für meine Kinder sorgen und den Kopf oben behalten.«
Nach dieser Rede ging er hinaus in den Stall und ließ Amalja mit Abels allein.
»Was ist passiert?« fragte Abels. Er sah in das bleiche, übernächtigte Gesicht des Mädchens. Amalja stand auf und ging ans Fenster. Sie hatte den Rest der Nacht über Zeit gehabt, ihre Lage durchzudenken. Sie war hoffnungslos ohne Abels. Wenn man einen Fisch aus dem Wasser in die Wüste trägt, hätte es nicht schlimmer sein können.
»Es ist vorbei«, sagte sie mit merkwürdig nüchterner Stimme. Sie sprach sogar englisch. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie nehmen mich mit, Martin, oder ich melde mich beim Militärkommandanten von Tygdinsk und lasse mich erschießen. Es gibt nur diese beiden Auswege, glauben Sie mir.« Sie drehte sich um. Ihre dunklen Augen sprühten vor Wut. »Sie haben mir einen Tritt gegeben, Martin! Sie haben mir gestern nacht in deutlicher Sprache mitgeteilt, daß ich für sie gestorben bin. Weil ich versagt habe, weil ich noch hier bin und nicht in Jakutsk. Weil ich den Winter, den Schnee, das Eis, den Frost nicht überwunden habe. Weil ich zu langsam war. Das alles genügt, um einem Menschen zu sagen: Stirb! Verrecke meinetwegen! Aber melde dich nicht mehr! Ende!« Sie hob die Arme ein Stück und ließ sie an den Körper zurückfallen. »Sie sehen – es bleibt keine Wahl mehr. Ich muß mich an Sie klammern und Sie bitten, für mich zu sorgen – oder ich muß mich töten lassen. Mich selbst umbringen, das kann ich nicht. Dazu fehlt mir der Mut … obwohl ich die Blausäurekapsel bei mir habe.«
Abels lief es kalt über den Rücken. Er streckte die Hand aus und winkte mit den Fingern.
»Her damit!« sagte er laut.
»Was?«
»Die Zyankalikapsel!«
»Warum?«
»Hergeben!«
Zögernd griff Amalja Semperowa in die Innentasche des Rockes und holte die kleine, flache Schachtel heraus. Sie gab sie Abels, und dieser steckte sie ein. »Ich werde sie nachher vergraben«, sagte er. »Und wir werden schon etwas für Sie finden.«
»Wir werden finden! Wir müssen darüber nachdenken! Am Morgen sprechen, wir darüber. Immer die
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