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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gleichen Worte, die gleichen Töne! Ob Sie oder dieser Stepan! Begreifen Sie denn nicht? Ich bin ein lebender Leichnam. Daß ich noch atme, ist ein Frevel. Aber ich denke nicht daran, mich aufzugeben. Ich werde um dieses mistige Leben kämpfen, und ich werde so brutal sein, mich an Sie zu werfen, mich an Ihnen festzukrallen und Ihnen zuzuschreien: Sorgen Sie für mich! Ob Sie es wollen oder nicht – Sie sind ein Mensch, ich bin ein Mensch, wir müssen uns helfen. Oder liefern Sie mich aus – dann sind Sie mein Mörder. Wenn Ihr Gewissen das ertragen kann – bitte!«
    »Sie reden sich da in eine Erregung hinein, Betty …« Abels setzte sich an den Herd und hielt die Hände gegen die Glut. Draußen hatte es erneut gefroren. Das Thermometer war auf 30 Grad gefallen. Der Morgenzug aus Tschita war nicht eingetroffen. Er hing irgendwo auf der Strecke fest, an einer eingefrorenen Weiche. »Überlegen Sie doch mal! Ich werde zu Fuß nach Norden weiterziehen.«
    »Ich gehe mit!« sagte sie hart.
    »Ich wühle mich durch diese Wildnis, um ein Mädchen zu suchen. Das wissen Sie. Wenn ich es gefunden habe, muß ich den gleichen Weg wieder zurück in die Freiheit!«
    »Ich werde Ihr Schatten sein.«
    »Die Chance, daß zwei durchkommen, ist schon gering. Zu dritt sinkt die Chance um die Hälfte! Wollen Sie mich und Anuschka verraten?«
    »Wollen Sie mich so einfach wegwerfen?«
    »Wir müssen einen Weg suchen.«
    »Ich kenne ihn! Es ist Ihr Weg!«
    Stepan kam zurück aus dem Stall. Er hatte von der Tür das meiste mit angehört und nickte mit dem Kopf. »Sie hat recht, Nikolai.« Er sprach wieder russisch, denn er hatte Njuschka vom Markt kommen sehen. »Nimm sie mit!«
    »Verrückt!« schrie Abels. »Was soll ich in der Taiga mit einem Mädchen? Sie hält es nicht durch! Soll ich sie auf dem Rücken durch Sibirien schleppen?«
    »Ich werde euch helfen, so gut ich kann. Hast du Geld?«
    »Ich verdiene es bei Duganoff.«
    »Wie lange brauchst du noch?«
    »Noch zwei Wochen.«
    »So lange kann ich Amalja im Stall verstecken. Aber dann geht ihr weg.« Stepan hielt Abels die Hand hin. »Versprich mir, daß du sie mitnimmst. Du hast mich damals nicht erstochen – als Gegenleistung werde ich euch ausrüsten für den Marsch.«
    Abels schlug in die hingehaltene Hand ein. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei, aber es blieb auch ihm keine andere Wahl.
    Zwei Wochen lang arbeitete Nikolai, wie man ihn nannte, bei Duganoff und verfertigte dessen Zeichnungen. Er verdiente gut, indem er neben seinem Lohn auch noch einige Sachen über Stepan verschob: Papier, Bauholz, Werkzeuge, Verbandmaterial aus der Lagerapotheke, ja sogar einen Karton Klosettpapier, das als ausgesprochener Luxus galt. Er sammelte die Rubel und entzückte das Herz Duganoffs damit, daß er sagte: »Genosse Oberingenieur, Sie können morgen und übermorgen ruhig bei Ihrem Täubchen bleiben – ich mache die Arbeit schon allein!«
    »Du bist ein wertvoller Mensch!« antwortete Duganoff darauf und verschwand wirklich für zwei Tage. Es waren die beiden wichtigsten Tage, in denen Abels die letzten Vorbereitungen für seinen großen Fußmarsch durch Sibirien vollendete.
    Felkanow, der Gute, hatte ebenfalls sein Versprechen eingelöst. Er hatte eingekauft: zwei Paar Skier, zwei Rucksäcke, einen Berg Verpflegung, vor allem getrocknetes Salzfleisch, Kekse, Bohnen, Gries, Grütze, Zucker, Hartwurst und einen Klumpen Fett, ein Gemisch aus Butter und Schmalz. Das Wertvollste aber übergab er Abels und Amalja, als sie reisefertig vor ihm standen. Er tat es mit der Feierlichkeit eines einsegnenden Priesters.
    »Und hier, Freunde, mein Abschiedsgeschenk! Es ist wichtiger als alles, was ihr bei euch tragt.«
    Er ging in eine Ecke und holte aus ihr ein Gewehr und zwei Pistolen hervor. Wie eine Kostbarkeit trug er sie auf beiden Händen zu Abels.
    »Du bist ein wirklicher Freund, Stepan«, sagte Abels gerührt. »Woher hast du das alles?«
    »Vor dem Verfall gerettet, Brüderchen«, sagte Stepan mit zwinkernden Augen.
    Der Abschied war kurz. Man küßte sich nach russischer Sitte auf beide Wangen, gab sich die Hand und sagte: »Gott beschütze dich!« Auch Njuschka bekam einen Kuß, aber auf den Mund, von dem sie später zum großen Ärger Stepans behauptete, er sei der erste Kuß ihres Lebens gewesen, den sie bis in die kleine Zehe gespürt habe. Dann winkte man sich zu, ja, Stepan ging sogar noch ein Stückchen mit und blieb erst an der Weggabelung stehen, von der der eine Weg zur

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