Ein Mädchen aus Torusk
auslieferte und daß damit sein und des Mädchens Weg wirklich zu Ende ging. Schoß er hingegen nicht, so würden in wenigen Sekunden die Wölfe den Schlitten umzingelt haben, der graue riesige Leitwolf würde die Pferde anspringen, sie zu Fall bringen, und dann gab es nur noch ein Knäuel blutgieriger Bestien, unter deren zuschlagenden Zähnen die beiden Menschen und die Pferde zerrissen würden. Und er, Abels, würde dabeistehen und zusehen, das Gewehr, das sie hätte retten können, im Arm. Es würde ein Anblick sein, der sich in ihm eingrub als eine Schuld, die nie mehr zu löschen war.
Langsam hob er das Gewehr und zielte.
Der graue Riesenwolf flog nun in Höhe des mit der Peitsche nach ihm schlagenden Menschen; sein Geheul erfüllte die Stille und die eisige Luft. Seine Fänge, blutrot, mit langen, spitzen Zähnen bewaffnet, klafften auseinander. Ein starkes, ein gnadenloses Tier, das schon das Blut witterte und dessen kalte graugrüne Augen auf die beiden Menschen starrten, die in heller Verzweiflung zu schreien begannen.
»Hoj!« brüllten sie grell. »Hoj! Du Teufel! Du Satan! Hoj!« Und sie klammerten sich weiter am Schlitten fest und beteten, daß die Pferde schneller sein mochten als das graue Rudel der Wölfe.
Da schoß Martin Abels. Er konnte nicht anders, das Menschliche in ihm siegte über die Angst und alle Bedenken. Dreimal schoß er, und dreimal wußte er, daß er den Riesenwolf getroffen hatte. Über Kimme und Korn sah er, wie der graue fliegende Körper von den Einschlägen durchgeschüttelt wurde – aber der Leitwolf hetzte weiter, allerdings weniger schnell, mit ab und zu einknickenden Läufen. Schließlich taumelte er, Blut floß aus seinen Fängen, die Zunge schleifte über den Schnee, aber er lief und lief und schien sich an seinem eigenen Blut zu berauschen.
»Er ist unsterblich!« keuchte Martin Abels und schoß zum viertenmal. Der Wolf machte einen Satz zur Seite, blieb stehen und sah sich nach seinem Rudel um. Dann versuchte er weiterzulaufen; der wilde Drang, noch immer lebensfähig zu sein, trieb ihn ein paar Meter vorwärts, aber dann spürte er den Tod in sich, knickte in den Vorderläufen ein und erwartete so sein Rudel. Noch einmal heulte er auf, schaurig, langgezogen, klagend, den Himmel herabreißend … er riß den Fang auf, seine Zähne blinkten, seine blutige Zunge hing weit über die Lefzen … und dann war das Rudel bei ihm, und es vollzog sich das grausame Gesetz der Natur. Mit einem Triumphgebell fielen die anderen Wölfe über ihn her, ein Knäuel grauer, zitternder Leiber überrollte ihn, und dann sah man die Fleischfetzen fliegen und ein Auseinanderstieben der Herde, ein jeder Wolf mit einem Stück seines Leittieres im Rachen, zufrieden, vom warmen Blut berauscht, den Schlitten, die Menschen, die Pferde vergessend.
Noch dreimal schoß Martin Abels, und seine Schüsse hallten wider im Wald und über die Ebene. Drei weitere Wölfe sprangen hoch, überkugelten sich und wurden von den anderen Tieren zerrissen und in Stücken weggetragen.
Der Schlitten raste in einem weiten Bogen auf den Waldrand zu. Eine der vermummten Gestalten hatte die Zügel wieder ergriffen und versuchte, die in Todesangst blind über das Feld jagenden Pferde zu bändigen und zu lenken. Endlich gelang es, sie in den Griff zu bekommen, eine tiefe Stimme schrie: »Stoj! Stoj! Seid doch vernünftig, ihr Kleinen! Wir sind gerettet! Stoj!« und ließ den Schlitten auf den Wald zurasen. Kurz vor Abels und Amalja brachte man die Pferde zum Stehen, sie zitterten noch, als stäken sie in den Fängen des riesigen grauen Würgers; ihr Fell, schweißnaß, troff und dampfte und wurde in Sekundenschnelle mit einem weißen Kristallbelag überzogen, denn die Kälte war stärker als die tierische Wärme. Der Mann sprang aus dem Schlitten, während die andere Gestalt sich in den Schlitten und in die Decken zurückwarf, die Hände vor das Gesicht schlug und zu weinen begann.
»Danke, Genosse! Das war Rettung in letzter Sekunde!« sagte der Mann. Er streifte seine mit einem dicken Fuchsfell umrahmte Kapuze vom Schädel und wischte sich über das Gesicht. Er sah nicht aus wie ein Bauer, und auch seine Pelzkleidung war reich und nicht in einer Holzhütte bei Petroleumlicht mit der Hand genäht. Er war groß, hatte ein tiefes Organ und wasserhelle blaue Augen. »Ich bin Wassilij Petrowitsch Tasskan«, sagte er und verbeugte sich. »Und dort im Schlitten sitzt Marfa Umatalskaja. Sie kennen doch Marfa?«
»Nein!«
Weitere Kostenlose Bücher