Ein Mädchen aus Torusk
Inmitten der Wildnis blüht eine Rose, dachte er. Sie ist das Schönste, was ein Mann träumen kann. Nur träumen, ohne Hoffnung, es jemals berühren zu können.
»Ich heiße Abels, Martin Abels.« Er verbeugte sich und fand im gleichen Augenblick, wie dumm das war. Auch neun Jahre Sibirien haben es nicht vermocht, die Lehre der Höflichkeit auszulöschen, dachte er bitter.
»Martin?« Anuschka strich sich die flatternden Haare von den Augen. Ein warmer Wind fegte über die Wälder, aus dem Süden kam er, aus der Mongolei, glitt über die Lena dahin und küßte die Hütten von Torusk. »Sie sind ein Deutscher?«
»Ja.«
»Ein Verbrecher?«
Olga Turganowa betete im Inneren. Jesus Christ und alle Engel, laß ihn nicht wild werden. Laß uns leben. Dabei blickte sie um sich und atmete beruhigt auf. Die Nachbarn standen in den Türen, die Semkanoffs, die Poltakins und die Tschugarsskis. Sie würden helfen, wenn es nötig war.
Martin Abels lächelte schmerzlich. »Für euch sind wir Verbrecher, ja«, sagte er. »Aber haben Sie keine Angst, mein Fräulein. Ich bitte nur um ein wenig Wasser. Zwei Eimer nur. Meine Kameraden im Wald haben Durst. Können Sie mir Wasser geben?«
Anuschka nickte. Sie nahm die Eimer aus den Händen Martin Abels', ging mit ihnen zum Ziehbrunnen und schöpfte Wasser aus einem Ledersack in die Eimer. Martin sah ihr zu. Wie sie die schönen Beine in die Erde stemmte, dachte er. Wie ihr Rücken mit den Muskeln spielt, wenn sie den Balken hinaufstößt und ihn dann mit dem Strick wieder herunterzieht. Durch die Bluse sieht man es. Und der warme Wind spielt in ihrem schwarzen Haar. Es glänzt wie gelackt und wirft die Sonne zurück in Tausenden glitzernden, goldenen Sternen.
»Ich danke Ihnen, mein Fräulein«, sagte er, als er die gefüllten Eimer wieder an sich nahm. »Darf ich wiederkommen, wenn meine Freunde Durst haben? Im Wald ist es jetzt heiß.«
»Sie dürfen es, Martin.«
»Sie haben meinen Namen behalten?«
»Er klingt so schön, so fremd für uns, so – so hart und doch freundlich.«
Sie sahen sich an, ganz kurz nur, aber es war ein Eintauchen in ihre Seelen, und als sie wieder an das Licht kamen, wußten sie, daß dieser Tag von Gott gewollt war.
»Auf Wiedersehen«, sagte Martin Abels, und seine Stimme war belegt wie mit Borken.
»Auf Wiedersehen –«, sagte auch Anuschka.
Dann ging er, hielt die beiden Eimer fest in den Händen, damit sie nicht überschwappten, denn jeder Tropfen Wasser war ein Labsal für die rodende Kolonne.
Anuschka sah ihm nach, bis er hinter einem Hügel verschwand. Mein Fräulein, hatte er zu ihr gesagt. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie jemand ›mein Fräulein‹ genannt. Sie war nun sechzehn Jahre. Sie war erwachsen. Sie fühlte Sehnsucht in den Nächten, ohne zu wissen, wie man sie dämpfen kann. Sie träumte von der Liebe und seufzte im Schlaf. Auch Pawel Andrejewitsch, ihr Väterchen, sah und hörte das. Und er seufzte heimlich mit, denn wenn ein Mädchen beginnt, sich zu sehnen, wird das Elternhaus zu eng. Und das ist schlimm für einen Vater, der sein Töchterchen so liebt wie Pawel Andrejewitsch.
Olga Turganowa stieß Anuschka leicht in die Seite. »Komm«, sagte sie dumpf. »Im Stall muß noch gemistet werden. Was wird der gute Pawel sagen, wenn er zurückkommt und erfährt, daß ein Deutscher hier war? Toben wird er! Wieso laufen sie eigentlich so frei herum?«
»Wo sollen sie denn hin, Mamuschka?« Anuschka sah verträumt zum Wald hinüber. »Die Größe unseres Landes ist ihr sicherstes Gitter.«
Wie klug sie ist, meine Kleine, dachte Olga Turganowa. Das lernt man alles in der Schule von Taragaisk, gewiß. Es ist schon etwas wert, gebildet zu sein! Auch wenn es solche Mühe macht.
Am Abend gab es wirklich Streit. Pawel Andrejewitsch tobte, fluchte wie ein Tatar, hieb auf den Tisch und ritt zum Gefangenenlager. »Ich werde es ihnen zeigen, ehrliche Sowjetbürger mit Verbrechern in Verbindung zu bringen!« schrie er wild. »Und noch ein Deutscher! Das ist eine Schande für uns! Wenn sie Durst haben, sollen sie Gräser kauen! Bei mir gibt es kein Wasser mehr!«
Aber auch in Torusk gilt das Sprichwort, daß nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht ist. Nach zwei Stunden kam Pawel Andrejewitsch vom Lager zurück, setzte sich an den Tisch, trank eine Schale Tee, kratzte sich den Schädel, rauchte ein Pfeifchen Machorka leer und scharrte mit den Stiefeln über die Dielen.
»Es ist so, meine Lieben«, begann Pawel
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