Ein Magier im Monsterland
Boden. »Ich sehe es dir an, daß du noch skeptisch bist. Warte einfach, bis du es siehst! Praktische Erfahrung ist es, was wir jetzt benötigen. Ich brauche nur ein wenig Zeit, um mir einige Notizen zu machen, und wenn die nächste Krise da ist, wird ein Spezial-Schuh uns alle rausreißen!«
Mein Meister begann zu niesen.
»Verdammnis«, bellte Hendrek mit Blick auf die Baumkronen über ihm.
»Es ist Zeit für deinen Schuh!« schrie ich den Schuhbert an, doch meine Stimme verlor sich im Rauschen gigantischer Flügel.
Kapitel Fünf
Ein Zauberer muß sich jederzeit bemühen, nichts und niemandem nach dem ersten Eindruck zu be- und womöglich zu verurteilen. Manch ein vernunftbekanntes Sinneswesen besitzt auf dem Grunde seiner Persönlichkeit einen Schatz verborgener Werte, die man nur entdecken wird, wenn man ihn näher kennenlernt und längere Zeit mit ihm gemeinsam arbeitet; oder gar einen Schatz verborgener finanzieller Reserven, um die man ihn mit Hilfe von Rechnungen erleichtern kann, während der oben erwähnte Erkenntnisprozeß vonstatten geht.
- aus den LEHREN DES EBENEZUM, Band LVI
Ich wurde auf die Erde gestoßen. Etwas griff nach mir, etwas, das so hart wie Fels war. Ich wurde so einfach in die Lüfte emporgehoben, wie ich ein Insekt von einem Blatt pflücken mochte.
Ich sah auf die sich rasch entfernende Erde hinunter, auf der ich Snarks, Hendrek und den Schuhbert schreckerstarrt stehen sah. Doch wo war mein Meister?
Dicht neben meinem linken Ohr hörte ich einen Nieser. Es gelang mir, meinen Kopf gegen den Fahrtwind zu drehen – und meinen Meister zu sehen, der sich inmitten einer riesigen, gelben Greifvogel-Klaue befand. Ich sah auf die harten, gelben Zerklüftungen unter mir hinunter und erkannte, daß ich in einer ebensolchen steckte.
Das Monster hielt mich mit dem Kopf nach unten umklammert, so daß es mir nicht möglich war, meinen Kopf so weit zu drehen, als daß ich die wahre Natur unseres Entführers hätte entdecken können. Doch angesichts der Größe der Klauen mochte sich Unwissenheit in diesem Falle als Segen erweisen. Ich war dazu verurteilt, den tief unten rasant dahingleitenden Boden zu betrachten und ansonsten zu wünschen, daß ich nicht so gut zu Mittag gegessen hätte.
Wir bewegten uns mit absolut phantastischer Geschwindigkeit. Mir war, als könne der Flugwind jeden Augenblick die flatternden Kleider von meinem ohnehin schon unterkühlten Körper reißen. In meinen Ohren dröhnte es nur so, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Angst- und wuterfüllt brüllte ich gegen den Wind an. Was gab es Schlimmeres als unsere augenblickliche Lage?
Und in diesem Augenblick begannen sich die Klauen des Flugmonsters zu öffnen.
Ich griff in Panik nach dem hornigen, gelben Fleisch, um Halt zu finden. Lieber für immer und ewig vom Winde zerzaust in den Lüften zu schweben, als zwischen den Bäumen in schwindelerregender Tiefe zerschmettert zu werden! Doch die Baumwipfel kamen immer näher. In meiner Panik hatte ich nicht bemerkt, wie tief das Wesen schon heruntergestiegen war.
Plötzlich befanden wir uns über einer Lichtung, auf der sich viele Leute tummelten. Nein, falsch, keine Leute. Irgend etwas anderes.
In diesem Moment ließ die Klaue mich ganz los.
Als ich mich wieder aufrappelte, galten meine ersten Gedanken meinem Meister. Und da tauchte er schon an meiner Seite auf, seine nachtblauen Zauberergewänder waren ein wenig in Unordnung geraten. Sein eleganter Spitzhut war verschwunden, aber abgesehen davon schien er unversehrt zu sein. Natürlich nieste er unbändig.
Irgend etwas röhrte mit mächtiger Stimme ganz in der Nähe. Instinktiv griff ich nach meinem Eichenstab. Er war nicht da. Ich begriff mit einem Schauer des Entsetzens, daß ich sowohl den Stab als auch meinen Rucksack verloren hatte.
Also mußte ich wohl meine Fäuste gebrauchen. Ich sah einen Moment auf den Boden, beruhigte mich und stählte meinen Widerstandsgeist für Ebenezum und für Vushta!
Und blickte in das Gesicht der seltsamsten Kreatur, die ich je gesehen hatte.
»Hast du Gold?« knurrte das Gesicht. Es wirkte nicht gerade freundlich und gehörte zu einem sehr großen Adler. Der Körper des Wesens dagegen war nicht im geringsten vogelähnlich, sondern paßte eher zu einem Löwen. Hatte dieses Wesen dieses merkwürdige röhrende Geräusch produziert? Es hatte zumindest nicht besonders einladend geklungen. Und dann sollte ich vielleicht noch die gewaltigen Schwingen des Wesens
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