Ein magischer Walzer
hatte zwei kräftige Männer mitgebracht, und sie haben uns gepackt und nicht losgelassen“, erklärte Cassie.
Dorie erzählte weiter: „Sie haben uns zu dem Bordell gebracht. Wir wurden beide gebadet. Dann haben sie uns gezwungen, scheußliche Kleider anzuziehen und uns in ein Zimmer gesperrt. Es war ziemlich weit oben im Haus. Auf dem Dachboden, genau unter dem Dach.“ Sie legte den Kopf in den Nacken, als sie sich erinnerte, und sagte nachdenklich: „Es war etwa so steil wie das Dach hier, ein schmales Fenster war darin eingelassen. Man konnte von da aus über die Dächer der Stadt schauen.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Ich habe nicht lange hinausgesehen, weil ich Angst vor großen Höhen habe. Aber es war schön, ein Stück Himmel zu sehen.“
Sebastian fuhr sich mit zitternder Hand übers Gesicht. Hope legte ihren Arm um ihn. Mit seiner anderen Hand umklammerte er ihre.
„Aber Cassie ist gerne hoch über dem Boden. Da hatte sie die Idee.“ Sie grinste ihre Schwester an.
Sebastian wartete gespannt. „Was für eine Idee?“
„Da war eine kleine Truhe am Fußende des Bettes“, fuhr Cassie fort. „Dorie kann sich ausgezeichnet in enge Stellen zwängen, darum habe ich ihr gesagt, sie solle sich darin verstecken. Die Sachen aus der Kiste haben wir aus dem Fenster geworfen.“
„Ich passte genau hinein“, erklärte Dorie stolz.
„Und ich bin aus dem schmalen Fenster geklettert“, erzählte Cassie. „Das Dach war wirklich sehr steil und glitschig, weil es aus Schiefer war, aber barfuß ging es.“ Sie grinste Sebastian an. „Du weißt ja, ich und Dächer.“
Er versuchte ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, aber es ging nicht.
„Ich bin also auf das Dach gestiegen, ganz nach oben, wo man rittlings sitzen kann.“
„Auf den Dachfirst“, sagte Sebastian wie betäubt.
„Ja, genau. Es war sehr hoch oben, und ich konnte auf die Straßen unten sehen.“ Sie lächelte in die Runde.
„Was ist dann passiert?“, fragte Hope.
„Ich habe gewartet, bis Leute unten langgingen, und dann habe ich angefangen Dachschindeln nach unten zu werfen. Sie sind auf dem Pflaster zerschellt und haben mächtig Lärm gemacht. Und alle haben hochgeschaut, darum habe ich so laut geschrien, wie ich nur konnte, dass meine Schwester und ich entführt worden seien und in ein Bordell verkauft und ob jemand bitte kommen könnte und uns helfen.“
Angesichts solcher Kühnheit schnappte Hope nach Luft. Sebastian starrte seine Schwestern verdutzt an.
„Und ich habe weitergeschrien und gebrüllt und Ziegel auf die Straße geschmissen. Dann kam Tante Sadie und hat ihren Kopf aus dem Fenster gesteckt und mich ,ungezogenes Mädchen genannt, sagte, ich sollte hereinkommen. Den Leuten unten hat sie zugerufen, ich sei ihre Nichte und spielte ihr nur einen Streich ... “
„Aber Cassie hat zurückgeschrien, dass sie niemandes Nichte sei und dass diese entsetzliche Frau eine schreckliche Bordellbesitzerin sei und wir nicht hier bleiben wollten. Sogar in der Truhe konnte ich sie hören.“
„Und ich habe geschrien, dass wir von zu Hause verschleppt worden seien, und habe immer weiter Schindeln vom Dach geworfen, bis keine mehr da waren. Da waren aber schon Leute von überall hergekommen. Sie traten die Tür zu Tante Sadies Haus ein und kamen hoch in das Mansardenzimmer. Ein paar Männer haben Tante Sadie gepackt und vor den Richter gebracht. Dann haben sie mir gesagt, ich solle vom Dach herunterkommen, und das habe ich auch getan“, beendete Cassie ihre Erzählung stolz.
„Und danach kam ich aus der Truhe, und alle waren verwundert.“
Sebastian starrte seine Schwestern wie betäubt an. „Ihr seid ein Wunder! “, erklärte er zittrig und zog sie in seine Arme, drückte sie an sich.
Sie waren nicht in die Kinderprostitution gezwungen worden! Seine kleinen Schwestern waren doch nicht vergewaltigt und misshandelt worden. Er sog die Luft tief und dankbar in seine Lungen. Das Schlimmste war nicht geschehen. Er hatte geglaubt, Cassies Messer und Dories Schweigen seien Folgen ihrer schrecklichen Erlebnisse im Bordell. Der Gedanke hatte ihn monatelang gequält.
Er konnte nicht sprechen. Seine Augen waren feucht. Er blinzelte die Tränen fort und umarmte seine Schwestern erneut, sandte ein stilles Dankgebet gen Himmel für ihren Einfallsreichtum, ihren Mut und ihr glückliches Entkommen.
„Und was geschah dann?“, erkundigte sich Hope kurz darauf. Irgendwie saßen sie inzwischen alle auf dem Boden vor dem Kaminfeuer,
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