Ein magischer Walzer
Sebastians Überraschung trat sie vor und streckte ihre Hand aus. Vorsichtig nippte sie von der Milch. Ihre Stirn glättete sich, und sie trank die ganze Tasse aus. Lily, die Dienstmagd, grinste. „Schmeckt gut, nicht wahr? Möchtest du mehr?“
Dorie lächelte flüchtig und hielt die Tasse erneut hin. Sebastian war völlig verblüfft. Er beobachtete, wie der Lakai die Tasse wieder füllte und Dorie zurückgab. Sie nahm sie ohne Zögern und leerte sie.
Zwei Tassen Milch. Sebastian hatte seine kleine Schwester nie so viel Nahrung auf einmal zu sich nehmen gesehen. Endlich ein Anfang, dachte er dankbar. Gott sei Dank hatte Miss Hope sie eingeladen, mit ihnen in den Park zu kommen. Gott sei Dank war er mitgegangen. Sonst hätte er am Ende nicht herausgefunden, dass Dorie Milch trank. Zwei Tassen frische Milch jeden Tag brachte gewiss etwas Fleisch auf ihre zarten Knochen. Und vielleicht sogar Rosen auf ihre Wangen ...
Was für ein Morgen. Zwei Lächeln und zwei Tassen Milch.
Hope stand da und beobachtete die Reynes. Sie waren eine rätselhafte kleine Familie. Cassie und Dorie schienen nichts mit ihrem großen Bruder zu tun haben zu wollen, und er sprach sie so gut wie nie an oder unterhielt sich mit ihnen.
Dennoch ließ er sie nicht aus den Augen, wachte über sie wie eine große, stille Dogge, und aus seinem Gesichtsausdruck, während die Mädchen Milch tranken, las sie, dass er von dem Anblick gerührt war.
Allerdings konnte sie nicht sagen, wie sie diesen Eindruck gewonnen hatte; er hatte kein ausdrucksvolles Gesicht. Es war ein starkes Gesicht, stählern und unnachgiebig. Stur. Und seine Augen waren hart, grau und freudlos. Aber wenn sie weicher wurden ... und Hope hatte sie weicher werden sehen ... dann sah er vollkommen anders aus.
„Sieh mal! Da hat sich eine Menge gebildet. Was mag da wohl los sein?“, rief Grace, bevor sie Cassie an der Hand fasste. Cassie sah sich um und nahm Dorie, und die drei liefen davon. James gab Lily den Krug und sagte zu Hope: „Ich gehe mit ihnen, Miss.“ Aber Mr. Reyne war schneller.
„ Ich werde sie holen “, verkündete er. „ Sie sollten es besser wissen, als einfach so fortzurennen. “ Mit grimmiger Miene schritt er davon.
Faith fing ihren Blick auf. „Als hätte er Angst, sie könnten seiner Fuchtel entfliehen.“
Hope sank das Herz, weil diese Beobachtung ein beunruhigendes Körnchen Wahrheit enthielt. Die Merridews wussten alles über Männer, die kleine Mädchen fest unter ihrer Fuchtel haben wollten.
Ruhig bemerkte Faith: „Denkst du, er schlägt seine Schwestern, wie Großvater es mit uns getan hat?“
„Pst, Faith! Wir wissen nichts von ihm, und es ist nicht recht, Mutmaßungen anzustellen. Außerdem glaube ich nicht, dass Mr. Reyne wie Großvater ist. Außer höchstens rein äußerlich.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Großvater zur Rettung von jemandem reiten würde, so wie Mr. Reyne es bei ihr getan hatte. An jenem Morgen war Mr. Reyne ein sanfter Beschützer gewesen, Großvater hingegen kannte die Bedeutung dieser Worte gar nicht.
„Du kannst aber nicht abstreiten, dass mit den Mädchen etwas nicht stimmt.“
„Ja, aber wir können nicht wissen, ob er der Grund dafür ist.“
Ihre Schwester schaute sie nachdenklich an - Hope wusste, was sie dachte. Sie verteidigte ihn zu heftig für jemanden, dem er egal war. Sie spürte, wie ihre Wangen rot wurden, und erklärte: „Ich sage, wir sollten mehr über die Mädchen herausfinden, und das werden wir auch. Auf dem Rückweg sprichst du mit Cassie, und ich rede mit Mr. Reyne.“
„Wäre es nicht besser, wenn ich mit Mr. Reyne spräche?“, gab Faith zu bedenken.
Hope errötete stärker. „Nein. Das tue ich.“
Mr. Reyne kehrte zurück, die Mädchen im Schlepptau. Er wirkte verärgert und ernüchtert, Cassie und Grace sahen rebellisch aus, Dories Miene war ausdruckslos.
Es war schlimm: Hope fühlte sich an ihre Zwillingsschwester in jener Zeit erinnert, als sie noch in Norfolk lebten, wenn Großvater einen Wutanfall hatte. Faith wurde dann immer ganz still und schweigsam, als zöge sie sich ganz in sich selbst zurück. Als versuchte sie, sich so klein und unsichtbar zu machen, um bloß nicht Großvaters Aufmerksamkeit zu erregen, Großvaters Brutalität zu spüren zu bekommen.
Dorie sah genauso aus. Und ihr Bruder war wütend.
Hope ertrug es nicht. Sie eilte zu ihnen und fasste jedes der Reyne-Mädchen an der Hand. „Ich habe eine ganz wundervolle Idee. Wir alle gehen zu
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