Ein Mann - Kein Wort
»psychologisieren«
Auch dies ist eine Form der Belehrung, in der man sich über den anderen stellt: »Es ist doch offensichtlich, dass du mir gegenüber Minderwertigkeitskomplexe hast!« – »Das hört sich nach Midlife-Crisis an, deine Klagen …« – »Du leidest doch unter einer narzisstischen Störung, kein Wunder bei der Familie …!« Das scheinbare »Fachwissen« wird missbraucht, um den Gesprächspartner abzuwerten. Abwehr und Wut sind die normalen Folgen.
Dies ist eine sicher nicht vollständige Liste der am häufigsten zu beobachtenden Gesprächsfallen. Sie machen deutlich, wie leicht es dazu kommen kann, vom eigentlichen Ziel der Kommunikation abzudriften. Durch all diese Stolpersteine verwandelt sich ein gerade angefangenes offenes Gespräch binnen weniger Minuten in eine höchst angespannte Stresssituation.
Das eigentliche Ziel eines Gesprächs sollte grundsätzlich darin bestehen
…
… sich dem Gegenüber möglichst präzise verständlich zu machen (Konzentration aufs Ich)
… den anderen möglichst gut und besser als bisher zu verstehen (Konzentration aufs Du)
… einander mit Einfühlung und Respekt, aber auch Selbstbewusstsein zu begegnen (Konzentration aufs »Wir«) 76
… Gefühle der Angst oder Anspannung nicht entstehen zu lassen (Ich + Du)
… im Lauf des Gesprächs einander geistig und emotional näher zu kommen (Wir)
… im Gespräch (oder wenigstens zum Schluss des Gesprächs) bei aller unterschiedlichen Meinung Signale der Wertschätzung auszutauschen, um das Selbstwertgefühl des Gegenübers nicht anzugreifen (Du + Wir)
… falls es sich um ein
Problem
handelt, über das gesprochen wurde: eine für beide Seiten befriedigende Lösung oder Vereinbarung zu finden (Ich + Du + Wir)
… falls es zu keiner Lösung kam: die Fortführung des Gesprächs im beiderseitigen Einvernehmen zu vertagen (Wir)
Anhand zweier exemplarischer Gesprächssituationen möchte ich deutlich machen, wie diese Ziele erreicht werden können.
Erste Situation:
Ein Partner erzählt dem anderen etwas, was er erlebt hat, was ihn bewegt, beschäftigt, belastet oder erfreut usw.: »Als ich heute mit meinem Chef redete, meinte er plötzlich …« – »Heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum …« – »Vorhin rief meine Mutter an und sagte …«
Ziel eines solchen Gesprächs ist es, Erlebtes – und damit ein Stück Leben – miteinander zu teilen und im Gegenüber Resonanz, Verständnis, möglicherweise auch Anregung oder Unterstützung zu finden.
Folgende Reaktionen führen dazu, dass dieses Ziel nicht erreicht wird, indem dem »Sprecher« die Freude am Sich-Mitteilen genommen wird:
– der Zuhörer signalisiert Langeweile und Desinteresse; er hört nicht konzentriert zu, sondern beschäftigt sich nebenher mit etwas anderem
– er nimmt das Erzählte zu wenig ernst, macht sich womöglich darüber lustig
– er tut das Erzählte mit einer flapsigen oder allgemein-unverbindlichen Floskel ab (»So ist das halt« – »Tja, da musst du wohl durch«)
– der Zuhörende unterbricht zu früh und signalisiert damit Ungeduld oder mangelnde Achtung
– er kritisiert den Erzähler zu früh
– er beurteilt und kommentiert das Gesagte zu früh und stört damit das unbefangene Erzählen
– er gibt zu früh kluge Ratschläge oder bezieht Partei für eine Seite
Übung: Versuchen Sie einmal, bei dem folgenden Beispiel die zwanzig möglichen Antworten dahingehend zu sortieren, ob sie – entsprechend der oben aufgeführten Liste – für ein weitergehendes Gespräch eher fördernd oder eher hemmend sind. Stellen Sie sich die Frage: »Hätte ich bei dieser Antwort Lust, weiterzuerzählen?« Anders gefragt: »Wird bei dieser Antwort das Ich, das Du oder das Wir gestärkt?«
Ein Mann sagt zu seiner Frau: »Langsam reicht’s mir, was der Chef uns alles an Veränderungen und Neuerungen zumutet. Kaum ist was eingeführt, schon kommt wieder was Neues. Man kann sich auf nichts mehr verlassen, weil ständig etwas geändert wird!«
Mögliche Antworten der Frau
(f = fördernd, h = hemmend)
1) »Ja, das kann ich verstehen, aber jetzt sollten wir uns mal um Omas Geburtstag kümmern.«
2) »Mein Gott, das hast du doch letztes Jahr schon gesagt!«
3) »Was hat er denn wieder Neues eingeführt?«
4) »Der Chef wird wohl seine Gründe haben, sonst würde er die Neuerungen vermutlich nicht einführen!«
5) »Siehst du in diesen Veränderungen überhaupt keinen Sinn, oder sind sie einfach störend im
Weitere Kostenlose Bücher