Ein Mann wie ein Erdbeben
–«
»Die Diagnose des Herrn Professors ist klar. Ich wünsche Ihnen eine baldige Genesung.« Bankier Klotz reichte das Attest an Keitell weiter, der seine Lesebrille aus der Brusttasche holte und sie zusammengeklappt vor die Augen hielt. »Sie werden in ein Sanatorium gehen?«
»Ja. Nach Süditalien.«
»Sehr schön. Um diese Jahreszeit noch erträglich.« Bankier Keitell reichte Bob Barreis die Hand. »Auch meine besten Wünsche zur Genesung. Wir werden Ihren Arbeitsplatz natürlich freihalten.«
Nach zehn Minuten war Bob Barreis wieder auf der Straße. Dort wartete Tschocky in einem silbergrauen Sportwagen.
»Alles klar?« rief er durch das heruntergekurbelte Fenster.
»Alles! Sie schlucken es.«
»Logisch! Ein Attest von Schnätz! Steig ein! Wohin jetzt?«
»In irgendeine Kneipe und ein Bier trinken.« Bob Barreis ließ sich neben Tschocky in die tiefen Lederpolster fallen und streckte die Beine aus. In diesen modernen, flachen Sportwagen liegt man mehr als daß man sitzt. »Dann holen wir meine Sachen von der Witwe Czirnowski ab. Ich werde ihr als Entschädigung die Miete für ein halbes Jahr zahlen …«
Am Abend des Montags rief Theodor Haferkamp bei Keitell & Co. an und erfuhr, daß sein Neffe krank sei. Erst als Klotz von den vier Wochen Schonung sprach, dämmerte es bei Onkel Theo und wurde dann heller Tag.
»Lesen Sie mir doch bitte einmal das Attest vor«, bat er und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Bankier Keitell übernahm die Unterrichtung.
»Das Attest ist ausgestellt von Herrn Professor Dr. Schnätz und lautet: Herr Robert Barreis leidet an einer akuten Überempfindlichkeit als Folge eines nervösen Erschöpfungszustandes, verbunden mit konstitutioneller Nervosität. Ich halte eine vierwöchige Schonung für angezeigt. Das ist der Text.«
Theo Haferkamp lachte laut, nachdem Keitell geendet hatte, dann aber wurde er sehr ernst und hieb auf den Tisch. Keitell und Klotz hörten den Aufschlag deutlich im Telefon.
»Wer ist dieser Professor Schnätz?« rief Haferkamp.
»Eine Kapazität, Herr Haferkamp.« Bankier Klotz, selbst Patient von Schnätz, bekam rote Ohrläppchen, als er Haferkamp wieder lachen hörte. »Professor Schnätz genießt internationalen Ruf, und ein Attest von ihm ist über jeden Zweifel erhaben. Wenn Professor Schnätz Ihrem Neffen diese Krankheit bescheinigt, dann –«
»Wo ist Bob jetzt?« unterbrach Haferkamp das Loblied auf Schnätz.
»Unser Interessenbereich endet vor der Banktür«, sagte Keitell steif.
»Hatte Bob Besuch. In der Bank?«
»Ja. Herr Tschocky junior.«
»Von den Stahlwerken?«
»Sehr richtig.«
»Danke, meine Herren!«
Theodor Haferkamp war kein Mann, der lange Selbstbetrachtungen führte. Er handelte, und dafür war er berühmt und berüchtigt. Als einmal vor zwei Jahren seine Arbeiter streikten, marschierte Haferkamp wie die Streikenden mit einem Transparent durch die Fabrikhöfe und Produktionshallen, ganz allein und von keinem behindert. Auf dem Transparent stand: ›1946 wurden wir demontiert … 1948 kauften wir aus unserer Tasche neue Maschinen … damals brauchten 521 Familien nicht mehr zu hungern … Heute sind es einige tausend! Jetzt geht hin und schlagt alles kaputt!‹
Der Streik dauerte zwei Stunden … so lange, wie Haferkamp brauchte, um mit seinem Transparent durch die Fabrik zu ziehen.
Auf der nächsten Lohntüte stand der Spruch: ›Eine große Schnauze ist nur gut zum Fressen … man kann den Spargel quer reinschieben.‹
Es gab keinen in Vredenhausen, der darob beleidigt war. Nur der Gewerkschaftsvorsitzende, aber der wird ja auch dafür bezahlt …
Haferkamp rief in Essen bei der Familie Tschocky an. Ein Butler meldete sich und sprach wie durch eine Nasenklammer.
»Ich möchte Herrn Tschocky junior sprechen«, sagte Haferkamp. Da dieses Telefongespräch nur ein Test war, unterdrückte er den bohrenden Wunsch, den Butler zu ärgern.
»Herr Tschocky ist verreist«, näselte die Stimme aus Essen.
»Wohin?«
»Das zu erklären, übersteigt meine Befugnisse. Wer sind Sie überhaupt?«
Haferkamp legte mit einem Achselzucken auf.
Verreist. Bob und der junge Tschocky. Im Amerika der dreißiger Jahre würde so etwas bedeutet haben, daß die Sicherheit des Staates gefährdet war. Haferkamp läutete Rechtsanwalt Dr. Dorlach an. Es dauerte etwas, bis der Anwalt seinen Hörer abnahm.
»Ich saß in der Badewanne«, sagte Dorlach, als er Haferkamps Stimme erkannte. »Was gibt es? Unter mir wird der
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