Ein Mann will nach oben
Karl Siebrecht mild erstaunt.
»Das wissen Sie eben nicht!« rief die Palude triumphierend. »Er war nämlich noch einmal hier!«
»Noch einmal? Was wollte er denn noch einmal hier? Hat er sich etwa rüdig benommen?«
»Das möchte ich ihm nicht geraten haben! Nein, er war ganz anständig, er hat mich nicht einmal olle Zicke genannt. Nein, Herr Siebrecht, der Franz hatte einen kleinen schmierigen Kerl mit. Er hat gesagt, der vertritt ihn jetzt, der ist sein Rechtsbeistand. Haben Sie schon mal von dem Rechtsanwalt Ziegenbrink gehört?«
»Nein!«
»Aber ich!« sagte sie. »Ich kenne den Schweinehund. Er hat den Wagenseil schon zweimal vertreten, einmal bei einer Pferdebetrügerei und einmal, wie er den Gardekürassieren verschimmeltes Heu geliefert hatte. Der Ziegenbrink ist der schlimmste Gauner von Berlin, der vertritt nur Betrüger, Räuber und Mörder!«
»Und das ist sein Rechtsanwalt –?«
»Jawohl, das ist sein Rechtsanwalt!« antwortete Fräulein Palude. »Herr Siebrecht«, fuhr sie eifrig fort, »Sie müssen sofort auch einen Anwalt nehmen, sonst kriegt der Ziegenbrink uns unter!«
»Nein!« antwortete Karl Siebrecht und schüttelte den Kopf. »Warum denn?« Seine Gedanken waren noch bei den Erlebnissen des heutigen Tages: plötzlich wußte er es, daß der Tiergarten herrlich grün gewesen war, der Goldregen und der Flieder blühten, und überall schlugen die Finken. Er sah das junge Mädchen mit dem schmalen hellen Gesicht und den blonden, leise zitternden Korkzieherlocken. Einen Augenblick erschien die Zeichenstube von Kalubrigkeit & Co., sie war ganz leer, nur über ein Reißbrett gebeugt stand der Herr Oberingenieur Hartleben, allein. Von ihm hatte der Rittmeister nichts erzählen können, und die Zeichenstube wurde dunkel. Rosarote Söckchen aus Seide … Der Rittmeister und er hatten stundenlang vergnügt miteinander geplaudert, und die Blasiertheit des Herrn von Senden hatte den jungen Mann diesmal nicht abgestoßen.
Aber während diese Gedanken und Bilder wirbelnd durch seinen Kopf schossen, war es ihm, als griffe eine Hand nach seinem Herzen und drücke es langsam immer fester zusammen. Eine Ahnung von schwerem, trübem Unheil überkam ihn, dunkle Stunden drohten, alles Heitere entschwand.
»Nein!« hatte er gesagt, »keinen Anwalt!« Er warf den Kopf in den Nacken und fragte Fräulein Palude: »Was können die uns schließlich wollen? Wir haben immer reell gegen Franz Wagenseil gehandelt.«
Die Palude warf ihrem jungen, unerfahrenen Chef einen mitleidigen Blick zu. »Der Ziegenbrink hat gesagt«, meldete sie trocken, »er erkennt unseren Kontoauszug nicht an. Und er hat gesagt, wir sind nach dem Vertrag nicht berechtigt, auch nur einen Pfennig von den Wochenabrechnungen einzubehalten, sonst klagt er sofort. Und der Ziegenbrink sagt, er erkenne überhaupt sämtliche Abrechnungen mit dem Wagenseil nicht an, er verlangt Vorlage und Einsicht in unsere Bücher.« Fräulein Palude schwieg, und jetzt sah sie ihren Brotherrn wirklich sehr sorgenvoll an. Auch der schaute bekümmert drein, denn es war ihm klar, daß seine Buchführung mit ihrer ärmlichen Kassenkladde alles andere als kaufmännisch einwandfrei war. Und selbst diese ärmliche Kladde gab es erst seit zwei Jahren, seit Fräulein Paludes Kommen. Vorher gab es nur Notizbücher mit Wachstuchdeckel, mit Bleistifteintragungen, die Karl Siebrecht gemacht hatte, wo er gerade gewesen war, auf dem Rollwagen, am Gepäckschalter, an einer Straßenecke.
Aber wieder warf Karl Siebrecht den Kopf in den Nacken. Er sagte: »Sie, Kalli, Rieke, ich, auch der Franz, wir wissen es alle, daß stets anständig abgerechnet worden ist, und mit Anständigkeit kommt man immer durch, Fräulein Palude!«
»Gehen Sie lieber zu einem Anwalt!« riet die Palude.
»Nein«, sagte er. Plötzlich mußte er lachen. »Wissen Sie was, Fräulein Palude? Das alles ist ja nur ein Schreckschuß! Der Ziegenbrink wird schnell genug merken, daß Franz keinen Pfennig Geld hat, und für nichts wird er nichts tun!«
»Aber Sie haben Geld«, sagte Fräulein Palude. »Dem Ziegenbrink ist es egal, von wem er sein Geld holt!«
»Meines kriegt er nicht, und Franz hat keins! Wetten, daß der Spuk in drei Tagen zu Ende ist?«
Fräulein Palude bewegte zweifelnd ihren Kopf. Und sie hatte recht zu zweifeln, Karl Siebrecht sollte bald erfahren, daß Franz Wagenseil Geld hatte.
Kalli Flau und Rieke saßen an dem Schneidertisch und tranken einen improvisierten Nachmittagskaffee. Die
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