Ein Mann will nach oben
geraten. Das mußte er aufgeben. Es blieb ihm nur, was Rieke heute morgen vorgeschlagen hatte: Handwagen durch die Straßen ziehen – und es war jetzt mindestens die vierfache Menge Gepäck gegen früher zu befördern! Aber wenn er selbst das schaffte, wenn er es ein, zwei Wochen durchhielt, der Vertrag war dadurch nicht aus der Welt. Immer mußte er sich irgendwie mit Wagenseil oder dem Anwalt einigen. Er schüttelte das ab. Das kam später. Was später kam, würde er später überlegen. Das nächste hieß: Handwagen! Er wandte sich um, er diktierte der Palude einen Brief, er benötigte wegen Betriebseinschränkung ab sofort keine Gespanne mehr … So, das war alles; nichts von schlechten Pferden, nichts von dem, was später werden würde. Ich brauche euch nicht mehr – das war seine Kriegserklärung!
»So, den Brief schreiben Sie zweimal! An Franz Wagenseil und an den Anwalt selbst. Alles Eilbote und Einschreiben. Sie tragen die Briefe selbst zur Post. – Und auf dem Rückweg holen Sie tausend Mark von der Sparkasse, in kleinen Scheinen. – Rieke, du verlegst deine Schneiderstube ein bißchen hierher und paßt auf das Telefon auf. Wenn sie von der Bahn reklamieren, sagst du, ich brächte es noch heute in Ordnung. Kutscher und Verlader, die sich melden, sollen hier warten,ich bin bald zurück.« Er war aus dem Büro, ehe sie ihn noch etwas fragen konnten.
Draußen hatte er Glück. Er traf den Reservewagen, den der Lehrling Egon aufgestöbert hatte. Er schickte ihn zum Entladen, dann sollte er sofort auf den Fuhrhof zurück. Egon mußte nach dem einen noch fehlenden Wagen suchen, der wahrscheinlich am Lehrter Bahnhof steckte. Auch der Wagen sollte nur entladen und auf den Fuhrhof zurück. Franz Wagenseil würde nun doch Augen machen – jetzt wurde er lahmgelegt! Und er würde ein paar böse Stunden mit seinen Kutschern bekommen. Sie würden dem Franz schon sagen, was sie von ihm dachten! Er fand den verunglückten Rollwagen in der Nähe der Warschauer Brücke, umdrängt von der unvermeidlichen Ansammlung Neugieriger. Wenigstens hatte der tüchtige Kalli Flau das zerbrochene Rad bereits notdürftig flicken lassen, bis zum Schlesischen Bahnhof würde es gehen. Die Koffer waren schon wieder aufgeladen, aber leider waren zwei beim Herabfallen aufgesprungen. Diese beiden Koffer kosteten ihn auf dem Schlesischen Bahnhof zwei volle Stunden, denn ihre Besitzerin, eine polnische Wanderarbeiterin, behauptete, daß alle möglichen Kostbarkeiten darin gewesen seien. Gotdob war das Frauenzimmer gar zu gierig, die gute Gelegenheit auszunützen. Mit dem, was sie als Inhalt der Koffer angab, hätte sie fünf Koffer füllen können! Schließlich einigte er sich mit ihr auf eine Entschädigung von fünfzig Mark. Sie war sichtlich zufrieden. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nichts verloren. Aber Karl Siebrecht hatte viel mehr verloren als fünfzig Mark. Manch bitteres Wort war ihm auf dem Bahnhof gesagt worden. Das Gepäck häufte sich dort, und er konnte keine bestimmten Angaben machen, wann er es abholen würde. Schon sagte der eine oder andere, daß man ja nur einem anderen Fuhrwerksbesitzer einen Wink geben müsse. Karl Siebrecht, der für die Schuld eines anderen geschlagen wurde, mußte stillhalten, zum Guten reden, scherzen. Schließlich konnte er nicht jedem seine etwas komplizierten Vertragsbeziehungen zu Franz Wagenseil auseinandersetzen.Zudem war den Bahnleuten das ganz gleich: sie wollten ihr Gepäck los sein und nicht die ewigen Beschwerden der Reisenden hören müssen!
Unterdes war Kalli Flau auf die Jagd nach Handwagen gegangen. Sicher gab es unendlich viel unbenutzte Handwagen in Berlin, aber sie hatten keine Zeit, lange nach ihnen zu suchen. Sie mußten nehmen, was sie fanden, kleine und große, alte Rumpelkarren, farbenbeschmutzte Malerwagen, die leicht und lang sind, weil auf sie auch Leitern geladen werden, und die kurzen, gedrungenen schwarzen Karren der Kohlenhändler. Sie nahmen alles zu jedem Preis, mit und ohne Bedienung, immer auf eine Woche.
Während jetzt Karl Siebrecht immer weiter mietete, fing Kalli Flau schon an, die beiden von ihren Kutschern verlassenen Rollwagen leer zu fahren. Gegen Abend hatten sie siebzehn Karren im Gang. Alle Verlader und fünf von den Kutschern Franz Wagenseils waren zu ihnen gekommen. Sie erzählten von wüsten Szenen auf dem Fuhrhof. Es hatte nicht viel gefehlt, so hätte Franz kräftige Dresche bezogen. Aber das alles lag Karl Siebrecht schon fern. Franz Wagenseil
Weitere Kostenlose Bücher