Ein Mann zum Heiraten
je bei ihm beobachtet hatte, war Wut. Diese Wut hatte sie zum Beispiel zu spüren bekommen, als er sie so überraschend geküsst und damit seine ganze Verachtung ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte.
Poppy erschauerte jetzt, als sie ins Bad eilte. Es war ein verräterisches Gefühl, und es hatte nichts mit der kühlen Morgenluft zu tun. Als sie nämlich aus dem Fenster schaute, stellte sie fest, dass es ein schöner, warmer Tag zu werden versprach.
Dass sie eine Gänsehaut bekommen hatte, hatte einen ganz anderen Grund. Entsetzt wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass es etwas mit dem Gedanken an James’ routinierten Kuss zu tun hatte, der ihr eben durch den Kopf gegangen war.
Da sie jedoch nicht weiter darüber nachdenken wollte, lenkte sie sich bewusst ab, indem sie unter der Dusche im Geiste noch einmal die japanischen Fachausdrücke wiederholte, die sie sich am Vorabend eingeprägt hatte.
Die Konferenz, an der sie teilnehmen würden, fand zum ersten Mal statt und hatte ein enorm hohes Prestige. Poppy hatte sich sehr darauf gefreut, bis sie von James erfahren hatte, dass er mitfliegen und nicht nur Chris, sondern auch das gesamte Verkaufsteam vertreten würde.
Die Konferenz fand nicht in Mailand statt, wo Poppy bereits einige Male gewesen war, sondern in einem neu eröffneten Kurhotel in den Bergen. Dem Prospekt nach zu urteilen, den Chris ihr gezeigt hatte, würde die Veranstaltung eher einem Luxusurlaub gleichen als einer Dienstreise.
Allerdings werde ich keine Zeit haben, um die Angebote des Hotels zu nutzen, überlegte Poppy, als sie aus der Dusche kam und nach einem Handtuch griff. Dafür wird James schon sorgen.
Während sie sich die Unterwäsche anzog, betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel. Sie war schon immer schlank gewesen, aber in den Wochen vor der Hochzeit hatte sie abgenommen, und nun war sie fast zu dünn. Als sie sich im Geiste mit Sally verglich, die über beinahe üppige weibliche Rundungen verfügte, konnte sie verstehen, dass Chris Sally ihr vorgezogen hatte.
Erst vor wenigen Monaten hatte James eine spöttische Bemerkung über ihre knabenhafte Figur gemacht, und zwar während ihres gemeinsamen obligatorischen Tanzes auf der Weihnachtsfeier in der Firma. Er umfasste ihre Taille nahezu mit beiden Händen und neckte sie damit, dass ihre Figur vielmehr mädchenhaft als weiblich war.
“Es ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass du dich weigerst, erwachsen zu werden und das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist”, bemerkte er.
“Ich bin erwachsen. Ich bin zweiundzwanzig”, entgegnete Poppy wütend.
“Nach außen hin schon”, räumte er ein, “aber innerlich bist du immer noch ein pubertierender Teenager, der in seiner Fantasiewelt lebt. Du hast überhaupt keine Ahnung vom wirklichen Leben, Poppy … von echten Gefühlen … richtigen Männern.”
Natürlich hatte sie das bestritten, doch es hatte keine Rolle gespielt.
Allerdings hatte diese Feindseligkeit, die im Laufe der Jahre immer stärker geworden war, nicht immer zwischen ihnen bestanden.
Als Kind hatte Poppy James bewundert. Damals war
er
derjenige gewesen, der sie verteidigt hatte, wenn Chris sie ärgerte. Er hatte ihr das Radfahren beigebracht, ihr gezeigt, wie man Drachen steigen ließ, und sie getröstet, wenn es dabei nicht auf Anhieb klappte.
Alles war jedoch anders geworden, als sie sich mit zwölf in Chris verliebt hatte. Von dem Moment an, als James erkannte, was sie für seinen Bruder empfand, hatte er sie feindselig und herablassend behandelt, und sie hatte darauf mit Wut und Verachtung reagiert.
Poppy ging ins Schlafzimmer, wo sie den blauen Rock ihres Kostüms und dazu eine cremefarbene Seidenbluse anzog. Dabei dachte sie daran, dass sie nicht die geringste Lust hatte, sich in den nächsten vier Tagen so von James schikanieren zu lassen. Andererseits war es nicht ihre Art, einen Rückzieher zu machen, indem sie sich weigerte, ihn zu begleiten. Dafür nahm sie ihren Job viel zu ernst.
Die Übersetzertätigkeit lastete sie zwar nicht aus, doch in Anbetracht der Tatsache, welche Jobs ihre ehemaligen Kommilitonen und Kommilitoninnen hatten annehmen müssen, hatte sie beschlossen, sich in der Firma zu bewähren. Daher hatte sie einen Computerkurs belegt und außerdem administrative Aufgaben übernommen.
Manchen Leuten wäre diese Arbeit womöglich banal vorgekommen, aber Poppy sah es so, dass sie wertvolle praktische Erfahrungen sammelte, die sich später in ihrem Lebenslauf genauso gut machen
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