Ein Mensch namens Jesus
Schenken dann wurden Verse eines anderen Poeten, der Vergil hieß, gesungen. Er trank achaiischen Zimtwein und Erdbeerwein aus Pergamon; er trank Reiswein und Palmwein, Gersten-, Hafer- und Honigbier; er aß aus Roggenmehl gebackenes Rosinenbrot und Milchbrötchen aus Maismehl, er kostete das Eierbrot der Parther und zyprisches Pfefferbrot, ägyptische Sesamfladen und armenische Nußbällchen. Er lernte, Tigranes-Brot — ein Brot aus Käseteig — zum Wein der Bituriger zu essen. Er verzehrte Brot in allen erdenklichen Formen, nur wenn es männliche oder weibliche Geschlechtsorgane darstellte — die Legionäre liebten das — , verzichtete er lieber darauf.
In diesem Jahr riß Tiberius der Geduldsfaden: Er verbot den jüdischen und ägyptischen Gotteskult in Rom und ganz Italien. Ein syrischer Händler, der eben aus Rom zurückgekehrt war, berichtete Jesus von dem kaiserlichen Beschluß.
»Bald«, meinte der Händler, »schließen sie auch noch den Tempel in Jerusalem, oder sie machen einen Apollo-Tempel daraus. Alle Juden Roms und Italiens, die ihrem Glauben nicht abgeschworen haben, wurden in die römische Armee eingezogen. Jetzt schickt man sie nach Germanien an die Front.«
Unaufhaltsam und immer schneller ging es demnach bergab mit den Juden. In gewisser Hinsicht hatten die Essener gar nicht so unrecht. »Ein abgestorbener Baum stürzt unweigerlich zu Boden«, hatte auch Josef einmal gesagt. Vielleicht war der jüdische Klerus in Rom genauso korrupt gewesen wie der in Jerusalem. Aber wie soll es weitergehen? fragte sich Jesus, als er sich am Abend auf dem Dielenboden einer Werkstatt ausstreckte; er atmete den angenehm unaufdringlichen Holzgeruch ein und lauschte dem Trippeln hungriger Mäuse. Wie soll es weitergehen?
Die Frage, auf die er keine Antwort wußte, begleitete ihn in seinen Gedanken überallhin; unaufhörlich stellte sie sich ihm, ganz gleich, was er tat, ob er Kiefern-, Zedern-, Nußbaum-, Buchen- oder Eichenholz bearbeitete, ob er mit Messer und Hohleisen gelbliches Teak- oder geschwärztes Ebenholz ausstach, ob er den Ägyptern zusah, wie sie Wein und Milch als Trankopfer auf den Altar des Dionysos gossen, den Skythen, wie sie ihrer Göttin Isis Tauben opferten oder auch zypriotischen Frauen und jungen Ziliziern, die Schamlippen junger Kühe und Stierhoden auf den Altar jener Göttin legten, die in ein und demselben Tempel verschiedene Namen trug: Venus, Ischtar oder Astarte. In Sidon forderte ihn eine Gruppe Bithyner und Syrier, der er in einer Schenke begegnete, auf, doch an den Riten, die sie ihrem Gott Mithras zu Ehren vollzogen, teilzunehmen. Er wollte sie nicht kränken und bat sie, ihm von jenem Gott, der nicht der seine war, zu erzählen.
»Mithras ist die unbesiegte Sonne, natalis invictus. Er wurde in der längsten Nacht des Jahres von einer Jungfrau in einer Höhle geboren. Mit ihm siegt das Licht über die Dunkelheit«, erklärte einer der älteren Männer aus der Gruppe, ein weißbärtiger Syrier.
»Aber da du nicht eingeweiht bist«, fügte ein junger Bithyner hinzu, »wirst du zunächst nur in die erste der sieben Sphären aufgenommen, in die Sphäre des Raben.«
»Wie ist es möglich, von einer Jungfrau geboren zu werden?« wollte er wissen.
»Es gibt solche Menschen«, erwiderte der Syrier, »sie gehören zu den Auserwählten.«
»Und welche besonderen Eigenschaften zeichnen Mithras aus?«
»Er ist der Gott der Fülle«, antwortete der Syrier, »er ist stark, jung und schön. Er hat den Stier getötet, das Sinnbild tierischer Kraft auf dieser Welt. Und das Blut des Stieres hat die Erde fruchtbar gemacht. Somit herrscht der Geist des Lichts über alles Lebende.«
»Wem wurde der Stier geopfert?« fragte Jesus.
»Mithras opferte ihn sich selbst.«
»Ist Mithras ein Mensch oder ein Geist?«
»Beides zugleich«, erklärte der Syrier würdevoll. »Er ist das, wonach wir alle streben, die vollkommene Verschmelzung von Körper und Licht. Sein Fleisch ist Licht. Folglich ist er ein Gott. Und wir alle sind Götter, wenn wir uns nur vom Licht durchdringen lassen.«
Jesus seufzte. Die Worte des Mannes weckten ein unbehagliches Gefühl in ihm. War er nicht selbst in diesen ekstatischen Zustand entrückt gewesen, an dem die Essener Anstoß genommen hatten, ebendadurch, daß er das Licht des Herrn in sich eindringen und dadurch die Schwerkraft überwinden ließ? Aber war er deshalb schon ein Gott? Vielleicht tatsächlich der Messias? War er Mithras dann nicht ebenbürtig? Und
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