Ein Mensch namens Jesus
Augen.
»Der Wein dort unten hat abscheulich geschmeckt«, erklärte Jesus. Sein Gegenüber brach in schallendes Gelächter aus. Dann aber legte er ohne Umschweife mit seinen Zukunftsvisionen los. Der Messias werde mit einem Feuerschwert herniederfahren und als erstes allen Römern den Kopf abschlagen; am nächsten Tag werde er die Betrüger enthaupten, und zwar gleich zu Beginn eine gewisse Anzahl Rabbiner.
»Was für ein Gemetzel!« warf Jesus ein.
Der Zypernwein war anscheinend zuwenig verdünnt, denn die Rede des Zimmermanns wurde immer zusammenhangloser. Nein, der Messias werde nicht kommen, weil die Juden seiner gar nicht würdig seien. Der Lehrling zwinkerte Jesus zu. Schwerfällig stand der Handwerker auf und ging zu Bett, nachdem er seinem neuen Gehilfen erlaubt hatte, in der Werkstatt zu schlafen. Jesus bereitete sich ein Lager auf dem Boden, ohne — zum erstenmal seit nahezu zwei Jahren — ein Bad genommen zu haben. Er schlief zehn Stunden. Noch vor der Morgendämmerung ging er sich am benachbarten Brunnen waschen, kam dann in die Werkstatt zurück, um sie auszukehren, zündete die Lampe unter dem Harztopf an und machte sich daran, die am Vortag glattgehobelten Bretter abzuschleifen.
»O Wunder, o Wunder!« rief der Zimmermann, als er mit einer Schale warmer Milch erschien. »Vor mir aufgestanden und schon an der Arbeit! Und das, obwohl er Zypemwein trinkt!«
»Aber nicht zu allen Mahlzeiten«, bemerkte Jesus.
Der Lehrling tauchte mit wichtiger Miene in der Werkstatt auf. »Er ist schon da«, meinte er, »im Norden ist er schon.«
»Wer?« fragte der Tischler.
»Der Messias, natürlich!«
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Onkel aus dem Norden hat es uns gestern erzählt. Der Messias ist ein großer Mann mit goldenem Haar. Als ihn der König von Syrien sah, lud er ihn gleich ein in seinen Palast, als ob er seinesgleichen wäre.«
»Und weiter?« erkundigte sich der Zimmermann.
»Was, und weiter? Der Messias ist da, nichts weiter.«
»Erstens«, stellte der Meister klar, »liegt Syrien nicht im Norden, sondern im Osten. Außerdem wird es nicht von einem syrischen König, sondern von einem römischen Verwalter regiert. Wenn ein Römer deinen Messias in seinen Palast eingeladen und der Messias die Einladung angenommen hat, dann ist er ebensowenig ein Messias, wie ich der Sohn der Königin von Saba bin.«
»Wenn ich’s dir doch sage, Meister«, rief der Lehrling. »Wirklich! Ich kenne sogar seinen Namen. Glaubst du mir nicht? Er heißt Abba Lo-nios. So, damit du’s weißt!«
»Apollonios«, berichtigte ihn Jesus und setzte dabei sein Hohleisen an. Eben war ihm der Name, den ihm der Dieb genannt hatte, wieder eingefallen. »Er ist Grieche.« Und er fügte hinzu: »Er kommt aus Ty-ana.«
»Wo liegt Tyana?« erkundigte sich der Zimmermann.
»In Kappadokien.«
»In Kappadokien, so«, murmelte der Meister und wandte sich seinem Lehrling zu: »Siehst du? Er ist Grieche!« Er grinste zufrieden: »Wer hat schon jemals von einem griechischen Messias gehört? Ein Messias, Kind, ist der Urururenkel Davids. Folglich muß er ein Jude sein, verstehst du?« Plötzlich runzelte er die Augenbrauen, drehte sich zu Jesus um und fragte: »Und du, woher kennst du diesen Apollonios?«
»Ich kenne ihn nicht persönlich, man spricht von ihm«, entgegnete Jesus. »Die Leute sagen, er sei ein sehr gelehrter Mann. Sie behaupten auch, daß er ein Magier sein soll wie so viele andere.«
»Was ist ein Magier?« wollte der Lehrling wissen.
»Jemand, der mit Dämonen unter einer Decke steckt«, gab sein Meister zurück. »Los, an die Arbeit!«
Wenig später stellte der Zimmermann fest, daß Jesus wirklich über vieles Bescheid wußte. »Du hättest besser daran getan, bei den Essenern zu bleiben, mein Freund! Du wärst sicher etwas Bedeutenderes geworden als ein Zimmermann. Aber vielleicht bist du nicht nur ein einfacher Zimmermann, obwohl du dein Handwerk wirklich verstehst. Womöglich bist du ein Rabbiner. Hab’ ich’s erraten?«
»Ich bin kein Rabbiner. Es gibt auch gebildete Zimmerleute.«
Als er genug Geld beisammenhatte, um einige Wochen lang davon leben zu können, ging er von Jericho fort und schlug wieder den Weg nach Archelaus und Skythopolis ein. Er wanderte in Richtung Norden, überschritt die Grenzen Palästinas, dorthin, wo unbekannte Städte verheißungsvoll auf ihn warteten. Wieder kam er an Saphiras Haus vorbei. Die Türe war verschlossen. Er klopfte an, erhielt aber keine Antwort. Das
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