Ein Mensch namens Jesus
machte ihn ein wenig traurig. So schnell kann es gehen, dachte er, schon stellt man Besitzansprüche. Von Skythopolis aus gelangte er nach Hippos, das am rechten Ufer des Sees Gennesaret lag. Er fühlte sich müde und leer.
In gewisser Hinsicht haben die Essener schon recht, ging es ihm durch den Kopf, die Welt geht dem Ende zu. Nichts mehr blieb von seiner Vergangenheit, und daher rührte auch seine Traurigkeit. Selbst Joka-naan, der ihm lange Zeit wie eine leuchtende Stütze erschienen war, schwand langsam aus seinem Herzen.
Er betrat eine Schenke, in der Hoffnung, Körper und Geist mit Speis und Trank zu beleben. Der Wirt war Syrier. Auf seiner Brust prangte ein emailliertes Stierbildnis, ein Anhänger des Mithras-Kultes also. Während er sein Abendessen — gebratenen Fisch und Wein — zu sich nahm, kamen drei römische Soldaten in das Gasthaus. Sie setzten ihre Helme ab und wischten sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war später Nachmittag, und ein Gewitter lag in der Luft. Sie bestellten Wild und Palmwein. Einer der Soldaten war Orientale, vielleicht ebenfalls Syrier. Sie sprachen lateinisch, und da sonst niemand in der Schenke saß, konnte Jesus ihrer Unterhaltung mühelos folgen. Sie erzählten sich, was ihnen an den anderen Provinzen, in denen sie schon gedient hatten, besonders gefallen hatte. Überall war es angenehmer als bei den Juden, darin stimmten alle drei überein.
»Wir dürfen uns keine Illusionen machen«, meinte einer der Soldaten, »wir sind nirgendwo gern gesehen.«
»Ja«, pflichtete ihm ein anderer bei, »aber die Juden sind das einzige Volk im ganzen Reich, das über keine Armee verfügt und trotzdem auf seine Unabhängigkeit pocht.«
Zum erstenmal hörte Jesus von den Juden in ihrer Gesamtheit sprechen; nie war ihm der Gedanke gekommen, man könne die Juden als ein Volk, eine Einheit verstehen, so wie man sich etwa die Römer vorstellte. Und doch, dachte er, ich selbst beurteile sie ja auch immer häufiger in ihrer Gesamtheit, als gehörte ich gar nicht zu ihnen... In der Nacht ging das Gewitter nieder, und als er am nächsten Tag seinen Weg fortsetzte, waren seine Gedanken noch immer bei den Römern. Warum, so überlegte er, beherrschten gerade sie die ganze Welt? Etliche Male hatte man ihm erzählt, daß von den Säulen des Herkules, die die westlichen Grenzpfosten des Reiches darstellten, bis hinunter zum Pontus und hinauf zu den Gegenden im hohen Norden — von denen man sich berichtete, sie steckten zur Hälfte im ewigen Eis-, daß überall in diesem Riesenreich die Legionäre des Cäsar Wache hielten. Warum hatten die Juden denn keine Armee? Warum durften sie nirgends Herrscher sein, nicht einmal im eigenen Land? Hatten sie der Welt entsagt? Waren sie womöglich alle potentielle Essener?
So gelangte er immer weiter nach Norden.
Er sprach Mandäisch, Syrisch, Nabatäisch, Palmyrisch, Samari-tisch, aber vor allem Griechisch und Lateinisch, sooft sich ihm die Gelegenheit bot. Jenseits von Ituräa allerdings sah er sich dann außerstande, noch weitere Sprachen hinzuzulernen, zu fremd klangen sie in seinen Ohren, und zu häufig änderten sich Aussprache und Dialekt.
In Tyrus reiste ein Mann in einem vergoldeten Pavillon auf dem Rücken eines Elefanten, weich gebettet in seidene Kissen. Von goldenen Ketten gehaltene Papageien umflatterten ihn. In Sidon hatte ein Fremder eine geschlossene Sänfte als Fortbewegungsmittel gewählt; ihr voran schritten gefleckte Pferde, mit kamelähnlichen Köpfen auf lächerlich langen Hälsen. Einige Leute meinten, ein Prinz ziehe da vorüber, andere hielten ihn für einen Magier, der Blei in Gold verwandeln könne, und wieder andere erzählten von einer schwarzhäutigen Frau mit goldenem Haar. In Palmyra wurden einen ganzen Tag lang Sklaven versteigert. Alle fanden sie Käufer: die Schwarzen wie die Jungfrauen aus Galatien, die Jünglinge aus Dalmatien ebenso wie die Athleten aus Irland. Man verkaufte sie nackt, und ihre neuen Besitzer legten ihnen gleich nach dem Kauf einen Mantel um.
Jesus arbeitete mal hier, mal dort, übernachtete, wo sich gerade Gelegenheit bot, und wusch sich in Flüssen und Brunnen. Oft belästigte man ihn mit eindeutigen Angeboten. Er lehnte ab, war aber stets bemüht, niemanden zu kränken, soweit der Betreffende sich auch ihm nicht in beleidigender Weise näherte. In den griechischen Schenken an der Küste hörte er die Straßensänger Hunderte von Versen eines Dichters namens Homer vortragen. In den römischen
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