Ein Mensch namens Jesus
lauerndem Blick fort, »daß Moses schließlich den Grund für Gottes Zorn erkannte: Er, Moses, war nicht beschnitten. Die Tatsache, daß er seine Vorhaut nicht geopfert hatte, er, der große Prophet, euer größter Prophet, der auf dem Berg Sinai vor seinen Schöpfer trat, hatte ihn beinahe das Leben gekostet! Schon als kleines Kind erfüllte mich dieser Gedanke mit Entrüstung, denn was bedeutet die Beschneidung eigentlich? Die symbolische Opferung der Männlichkeit. Und ich frage euch, meine Freunde, und auch dich, Fremder, was muß das für ein Gott sein, der von seinen Dienern die, wenn auch symbolische, Opferung ihres Mannseins verlangt? Was für ein Gott, der alle Unbeschnittenen zu töten sucht?...«
»Du beschimpfst mich, heidnischer Sophist!« schrie Jesus außer sich und warf sich auf den Bithyner. Die anderen Männer rissen ihn zurück und hielten ihn fest. Der junge Mann hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Seine Gefährten drückten Jesus wieder auf die Bank zurück.
»Das ärgerliche an euch Juden ist«, meinte der Bithyner weiter, »daß ihr die Intelligenz so verachtet! Du hast es gar nicht für nötig gefunden, über meine Fragen nachzudenken, sondern hast sie sofort als Beleidigung aufgefaßt. Ich bin noch nicht fertig mit dem, was ich dir zu sagen habe, aber keine Sorge, Fremder, ich werde mich kurz fassen. Auch später habe ich oft an diesen Zweikampf zwischen Jahwe und Moses gedacht, und jedesmal stieg das gleiche Gefühl der Empörung in mir hoch. Ich war auf der Suche nach einem Gott wie dem meinen, einem, der stolze, aber tolerante Menschen will. An jener Begebenheit stieß mir ferner auf, daß es Moses glückte, seinen Schöpfer zu besiegen und die Flucht zu ergreifen. Ein wahrer Gott, Fremder, verliert niemals. Und deshalb sollten wir ihn auch nie in unsere weltlichen Angelegenheiten mit einbeziehen, wie ihr das tut. So, jetzt bin ich fertig.« Jesus stürzte zur Tür hinaus. Aufgewühlt, verletzt und verstört, lief er durch die Nacht. Er wußte keine Antwort auf die Worte des Bithyners. Spät fand er Schlaf, nachdem er vergeblich zu beten versucht hatte. Am nächsten Morgen weckte ihn in aller Frühe das Flötenspiel eines Hirten, der seine Schafe auf die Weide trieb. Er stand auf, um sich im Meer zu baden.
War sein Gott wirklich der der Juden? Hatte nicht Er den Bithyner erschaffen und diese Begegnung inszeniert? Oder hatte da womöglich der Teufel seine Finger im Spiel? Man kann doch nicht ständig und bei allem, was geschieht, den Verdacht auf den Teufel lenken, sagte er sich, im Grunde macht man es sich damit sehr einfach.
Er wanderte tagelang, ohne Hunger und Erschöpfung zu spüren, nur Durst quälte ihn manchmal. Die Juden, andere Menschen, Menschen wie alle anderen... Warum hatte er sich verunsichern lassen, weil einige von ihnen die römische Uniform trugen? Steckte derzeit nicht ganz Judäa in dieser Uniform? Und gebührte denen, die den Sabbat nicht einhielten, wirklich größere Verachtung als jenen, die sich an diesem Tag im Namen des Herrn untersagten, Wasser zu lassen? In welchem Buch hatten die Essener gelesen, daß der Herr seinen Dienern am Sabbat Verstopfung vorschrieb? Er zuckte mit den Achseln und mußte an die Koliken zurückdenken, unter denen einige Essener in Qumran regelmäßig am Sabbat gelitten hatten. Wir brauchen etwas anderes, Herr! Etwas anderes als den alten Teufel, ohne den nur träge und halsstarrige Menschen nicht leben können und der allzugut in jenes Gottesbild paßt, das sie sich in ihrem von Angst und Schrecken geprägten Leben zusammengeschustert haben. Warum hatte er ihnen in Qumran nicht ins Gesicht geschrien: »Glaubt ihr denn, daß David sich am Sabbat das Scheißen verkniffen hat?« Aber auch er war nur ein Mensch mit allen seinen Ängsten.
In der Ferne tauchte eine Stadt auf, eine große Stadt, wie ihm schien. Er fragte einen Fischer: Antiochia.
Konnte Rom schöner sein? Antiochia glich einem einzigen Fest, das Harmonie und Intelligenz hier feierten. Wo das Auge hinsah: vergoldeter Stein, von Akanthus umrankte Säulen, die wie Finger in den Himmel zeigten, im Sonnenlicht blitzende goldene Dächer. Vorplätze, Säulenhallen, Tempel und Kolonnaden breiteten sich vor ihm im golden funkelnden Licht Syriens aus. Unermüdlich wanderte er staunend durch die Straßen. Die Stadt wirkte von zwei breiten, gepflasterten und von Arkaden gesäumten Prachtstraßen viergeteilt, die im rechten Winkel zueinander verliefen. Buntes Treiben herrschte
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