Ein Mensch namens Jesus
diese Frömmler tatsächlich vor, daß Gott eine solche Kost vorschrieb? Glaubten sie, Rebhühner, Fische, Gänse und Enten seien nur für Heiden bestimmt? Oder meinten sie etwa, der menschliche Körper sei so minderwertig, daß man ihn dem Hungertod entgegentreiben müsse?
»Weißt du«, sagte da Jokanaan, als hätte er die Gedanken seines Gastes erraten, »dies ist die Nahrung, die der Herr Seinen Kindern in der Wüste bereithält.«
»Und was, wenn es keine Heuschrecken gibt und die Bienen keinen Honig haben?«
»Dann fastet man eben«, antwortete streng der Schüler, der Jokanaan sein Kleid gereicht hatte.
»Zu fasten, weil der Wind die Heuschrecken davongetragen hat — das ist kein rechtes Fasten«, meinte Jesus.
»Mißbilligst du diese Nahrung?« fragte Jokanaan.
»Es gibt keine Nahrung, die ich mißbilligen würde. Aber ich glaube, daß Brot und Wein, die im Schweiße des menschlichen Angesichts entstehen, nicht weniger Achtung verdienen als Nahrungsmittel, die uns der Zufall beschert. Doch der Herr möge diese Mahlzeit segnen, wie Er auch das Brot gesegnet hat, das meine Mutter zu backen pflegte.«
»Lehre mich, ich werde dir zuhören«, sagte Jokanaan und stimmte eine nicht enden wollende Litanei von Danksagungen an, während sich seine Gefährten mißgelaunt von dem Neuankömmling abwandten, den ihnen ihr Meister als den Messias vorgestellt hatte. Die hier, dachte Jesus, werden lange brauchen, um sich mir anzuschließen. Ein drückendes Schweigen herrschte während der Mahlzeit.
»Taufst du täglich dieselben Leute?« fragte Jesus.
»Nein, eine Taufe genügt, um ihre Seelen von der Geburt in Sünde zu reinigen.«
Welche Sünde? fragte sich Jesus. Sollte denn die Geburt eines Geschöpfes Gottes als Sünde angesehen werden? Jokanaan war wirklich und wahrhaftig Essener geblieben. Und was hatte diese Variante des einmaligen Bades zu bedeuten? Hatte Jokanaan einen neuen Ritus begründet? Er hoffte, daß sich bald eine Gelegenheit zu einem offenen Gespräch mit dem Eremiten unter vier Augen ergeben würde. »Warum bist du nach Israel zurückgekehrt?« fragte einer aus der Schar, ein etwa vierzigjähriger Mann mit struppiger Mähne.
»Ich bin zurückgekommen wie die Schwalbe, die zu ihrem Nest zurückkehrt.«
»Und wie heißt der Frühling, der dich herführt?«
»Hoffnung«, antwortete Jesus schlicht.
Langsam machte sich die Dämmerung breit. Die Farbe des Himmels ging ins Violette über, bevor sie endgültig von der Dunkelheit verschluckt wurde. Man zündete ein Feuer an. Die Stimmen der Wüste machten sich immer vernehmlicher bemerkbar. Die Schreie der Nachtvögel, quakende, knisternde und zischelnde Laute vermischten sich mit dem Seufzen des Windes wie Worte einer anderen Sprache. Jokanaan betete langsam mit lauter Stimme, wobei er von Zeit zu Zeit wartete, bis die anderen seine Beschwörungen aufgenommen und wiederholt hatten.
Jesus starrte in die Flammen und dachte nach; über die blinde Überzeugung des Betenden von seiner Rolle als Messias und über den Einfluß, den die Wüste und das Zusammenleben mit Menschen, die nichts als sein Echo waren und der Wirklichkeit feindselig gegenüberstanden, auf das Wesen seines Vetters ausgeübt hatten. Er hat nichts dazugelernt, ging es ihm durch den Kopf, er wartet nur auf den göttlichen Boten, der in einem schrecklichen Racheakt der Welt ein Ende machen wird. In dieser Erwartung ist weder Weisheit noch Liebe, nur die Ungeduld des geschlagenen Kindes, das nun erwartet, daß sein Vater denen, die es mißhandelt haben, eine Tracht Prügel verabreicht! Jokanaans pathetischer Tonfall und das bußfertige Nachmurmeln seiner Schar erschienen ihm nur wie endloses Geschwätz. Er warf sich seine Ungeduld vor und seufzte. Er konnte nicht umhin, Jokanaan gern zu haben, und sei es nur um der Leidenschaft willen, mit der dieser Mensch sich seinem Streben nach dem Göttlichen hingegeben hatte. Jokanaan erinnerte ihn an einen hyperboräischen, von Leidenschaft verzehrten Dichter, den er eines Abends in Ktesiphon seine Gedichte hatte lesen hören. So packend und mit so kraftvollem Ausdruck hatte jener gelesen, daß Jesus wie gebannt zuhören mußte, obwohl er nicht ein Wort des Dichters verstand. Doch die innere Beseeltheit jenes Mannes war so stark gewesen, daß auch Jesus sich einem Trancezustand nicht hatte entziehen können, als sich am Endes eines Vortrags der Barbar entkleidet und zum Spiel der Zimbeln nackt getanzt hatte. Jener Barbar damals glaubte an
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