Ein Mensch namens Jesus
Einige hatten tatsächlich von einem Eremiten gehört, von dem sie glaubten, daß er so hieß, doch sie konnten nicht sagen, wo er sich aufhielt.
In Jericho endlich stieß er auf eine genauere Spur. »Der Essener«, brummte ein zahnloser Händler, der Rauteblätter verkaufte. »Eine Wegstunde weiter, am linken Ufer.« Erstaunt gab Jesus zu bedenken, daß es dort kein Dorf, ja nicht einmal eine Ansiedlung gab. Der Händler entgegnete, daß der Eremit eben wie alle Eremiten lebe, nämlich in der Wüste. Er sprach in schneidendem Ton, während er Jesus mit forschenden, mißtrauischen und zugleich spöttischen Blicken musterte.
»Warum willst du zu diesem Essener?« fragte er nach einer Weile, während er seine eigenen Rauteblätter mit, wie Jesus vermutete, winzigen Stückchen Fliegenpilz kaute. »Willst du dich etwa auch taufen lassen?«
»Taufen?« wiederholte Jesus fassungslos.
»Ja, taufen, Wasser über den Kopf gießen und ein paar Gebete und so. Wenn du dich nicht taufen lassen willst, warum gehst du dann zu dem Essener? Das ist alles, was er macht: die Leute bis zum Scheitel in den Jordan tauchen und das Ende aller Zeiten ankündigen. Und wenn ihm dann noch ein bißchen Luft bleibt, zieht er über Herodes und die Priester her.«
In hohem Bogen entledigte er sich einer Ladung Spucke und lachte glucksend. Jesus ließ ihn stehen und machte sich auf den Weg, um möglichst noch vor der schlimmsten Tageshitze an den angegebenen Ort zu gelangen. An der betreffenden Stelle verließ er die Straße und folgte einer deutlichen Spur von Eselskot und Hufabdrücken fast direkt bis an sein Ziel.
Zwei oder drei Dutzend Leute aller Altersgruppen standen am Ufer, manche mit hochgeschürzten Kleidern. Sie beobachteten andere, die im Wasser standen. Es war nicht schwer, Jokanaan darunter auszumachen. Er goß den Badenden mit Hilfe einer Schale Wasser über den Kopf. Einer jener Getauften entstieg völlig unbekleidet dem Fluß und trocknete sich ab, ein anderer folgte, die nächsten zogen sich aus und wateten ins Wasser. Jesus fragte sich, ob diese Leute wohl jeden Morgen kamen und gingen, um sich von ihren Sünden reinwaschen zu lassen. Als schließlich alle getauft waren, kehrte auch Jokanaan ans Ufer zurück. Mit einer erschreckend knochigen Hand griff er gerade ins Schilf, um sich an Land zu ziehen, da erblickte er Jesus.
Wie angewurzelt blieb er so stehen, mit einem Bein im Wasser, und starrte Jesus an. Dann rief er plötzlich aus: »Herr! Hier ist er, Dein Bote!«
Die flirrende Hitze trug seine Stimme bis hinauf in die Wipfel der Palmen, die sich leise wiegten. Aufgestörte Tauben flatterten über ihnen. Die Getauften rissen die Augen auf.
»Die Zeit ist also reif«, sagte Jokanaan, während Jesus ihm ans Ufer half, »du bist zurückgekommen.«
»Gott sei mit dir«, erwiderte Jesus.
Der strahlende junge Mann von früher war zum Skelett abgemagert. Hohlwangig war er, und seine Augenhöhlen lagen tief. Die Haut über seinen nunmehr hervorstehenden Backenknochen hatte sich in sonnverbranntes Leder verwandelt, und die Rippen stachen fast aus seinem Leib hervor. Seine einst so gepflegten Haare waren nun ausgebleicht und hingen ihm zerzaust über die Schultern herab. Der vom Wasser noch triefende Bart schließlich verlieh dem ehemaligen Essener endgültig das Aussehen eines Wahnsinnigen. War es der Hunger gewesen? Aber nein, die Täuflinge hatten Lebensmittel mitgebracht. Jokanaan konnte nicht am Verhungern sein. Ekstasen, ja natürlich! Auch er gab sich Ekstasen hin.
In diesen violetten Lippen, dem tief rosafarbenen Zahnfleisch, in den fiebrigen Augen und in dieser Zerbrechlichkeit, die an ein sterbendes Kind erinnerte, lag indessen eine andere, neue Schönheit.
»Ich habe auf dich gewartet. Du mußt mich von meinen Sünden reinwaschen«, sagte Jokanaan und fuhr sich mit den Fingern ordnend durch die Haare. »Bade du den Badenden, wasche den Waschenden!«
»Wer bin ich, daß ich dich von deinen Sünden reinwaschen könnte?« antwortete Jesus. »Du bist hier derjenige, der tauft.«
»Ich?« schrie Jokanaan mit nahezu schriller Stimme. »Ich bin weniger als die Heuschrecke im Gras, weniger als die Nachtigall, die in den von der Last der Nacht niedergedrückten Zweigen dem Anbruch des Tages entgegenjubelt, und ich bin weniger als die Wüstenspringmaus, die in der Wüste den Schatten sucht! Ich bin der abgestorbene Baum, der allmählich hohl wird, die Frucht des Bergahorns, die die Sonne täglich mehr austrocknet, der
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