Ein Mensch namens Jesus
aufpassen«, sagte dieser.
Die Sonne stand bereits hoch, als Jokanaan die Augen aufschlug. Seine Schüler standen im Kreis um ihn herum und rangen vor Ungeduld die Hände, weil bereits seit Sonnenaufgang etliche Pilger darauf warteten, vom Eremiten getauft zu werden. Doch Jokanaan war kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten. Er konnte unmöglich den ganzen Tag über im Wasser stehen.
»Geh und sag ihnen, daß du sie heute taufen wirst. Die Taufe muß nicht unbedingt nur Sache eines einzigen Mannes sein«, wandte sich Jesus an den ältesten in der Schar.
»Willst du uns jetzt vielleicht sagen, was wir zu tun und zu lassen haben?« fragte jener schroff.
»Tut, wie er euch sagt«, schaltete sich Jokanaan ein.
Jesus hockte sich neben Jokanaan und drängte ihn, einige Bissen von den mitgebrachten Nahrungsmitteln der Pilger zu essen. »Gott hat niemals befohlen, daß seine Kinder Hungers sterben sollen«, mahnte er streng, »und auch die Ekstasen sind nicht nötig.«
»Nicht nötig?« wiederholte Jokanaan.
»Sie müssen Zufallserscheinungen bleiben, man darf sie nicht bewußt herbeiführen. Gestern abend wärst du beinahe gestorben.«
»Du hast mir das Leben gerettet«, meinte Jokanaan.
»Und du hättest es nicht aufs Spiel setzen dürfen.«
»Hast du denn deine Trancezustände nicht gesucht?«
»Nein. Während ich betete, überkamen sie mich. Ich meide sie seither. Der Mensch darf nicht wider seine Natur streben. Gott hat uns aus Fleisch und Blut gemacht. Ganz offensichtlich ist es nicht sein Wille, daß wir uns vor der Zeit in reinen Geist verwandeln.«
»Aber die Zeit ist doch gekommen!« protestierte Jokanaan.
»Ich spreche von unserem Tod, und du, du denkst an das Ende der Welt. Ich glaube nicht, daß uns das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht. Wir haben eine Aufgabe hier auf Erden. Und wir werden lange brauchen, bis wir sie erfüllt haben.«
»Aber wenn du der Messias bist«, rief Jokanaan aus, »bedeutet das doch, daß das Ende der Welt naht! Du selbst bringst es!«
»Ich wüßte nicht, daß ich der Messias wäre«, entgegnete Jesus unwillig. »Ich dachte, ich hätte mich gestern klar genug ausgedrückt. Und wenn ich der Erlöser wäre, der Messias Israels und Aarons, müßte ich jedenfalls hier und jetzt über eine geistige und materielle Macht verfügen, die groß genug wäre, um auf der Stelle das Gesetz des Moses und die Würde der Juden wiederherzustellen. Wo soll mein Zepter sein? Wo meine Soldaten, hm? Wie auch immer meine Aufgabe aussieht, ich werde sie als Sterblicher, als Menschensohn erfüllen.«
Jokanaan lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum. »Du hast alles verworfen, was wir in Qumran gelernt haben«, murmelte er. »Und warum meinst du, daß ich von dort weggegangen bin?« antwortete Jesus und stand auf, um eine sich nähernde Gruppe von Leuten zu beobachten.
Sie kamen nicht zur Taufe, das sah man gleich. Ein halbes Dutzend schwitzender und die Gesichter verziehender Priester und Leviten waren es, die Jokanaan zu sprechen wünschten. Einer seiner Schüler führte sie zu ihm. Jokanaan, der am Boden sitzenblieb, musterte sie stillschweigend.
»Dein Ruf dringt bis in die Städte«, hob ihr Wortführer an. »Wir haben gehört, daß die Leute aus allen Provinzen hierherströmen, um sich von dir taufen zu lassen. Und sie verbreiten über dich allerlei Geschichten. Manche behaupten, du seiest der Messias, andere halten dich für Elias und wieder andere für einen neuen Propheten. Als Hüter des Glaubens können wir diese Gerüchte nicht umgehen lassen, ohne sie zu überprüfen.«
Sie warfen abschätzende Blicke auf seinen mageren Körper, sein ausgemergeltes Gesicht, und man konnte geradezu ihre Gedanken lesen: Soll das hier etwa der Gegenstand jener Heldengeschichten sein? »Ihr bereitet also euren Bericht für die Leute in Jerusalem vor«, gab Jokanaan sarkastisch von sich. »Nun, ich bin weder der Messias noch Elias! Und was das Gerücht von einem neuen Propheten angeht, woher sollte ich wissen, ob ich einer bin? Vielleicht mache ich Prophezeiungen, aber bin ich deshalb bereits ein Prophet?«
»Wer bist du dann? Wie würdest du dich selbst bezeichnen?« fragte ein Levit.
»Ich bin eine Stimme, die in der Wüste ruft: >Bereitet den Weg für den Herrn! <«
»Aber du bist nicht mehr in der Wüste, da so viele Leute bis hierher reisen, um dich zu sehen. Außerdem hast du Schüler um dich. Du lehrst sogar die Pilger. Wenn du weder der Messias noch Elias bist und auch nicht
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