Ein Mensch namens Jesus
Gott! Vielleicht verhielt es sich ebenso mit Jokanaan, wenn auch um vieles freudloser. Nur wenige Jahre genügten also, um einen strahlenden jungen Mann in ein Stück bereits erkaltende Glut zu verwandeln! Welchen Gott sollte man vorziehen, den des Barbaren, der das Leben entfachte und schürte, oder aber den Jokanaans, der es erstickte?
Das Gebet war beendet. Jetzt erst merkte Jesus, daß er gar nicht zugehört hatte und auch nicht in die Antwortgesänge mit eingefallen war. Die Meinung der Schüler über diesen angeblichen Messias stand jetzt mit Sicherheit fest. Er hatte versucht, Ordnung in die Fragen nach Gott zu bringen, die er sich, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, auch heute abend gestellt hatte. Doch wieder einmal vergeblich. Man breitete Decken auf dem Boden aus, und Jokanaan bot Jesus die seine an. Sie lagen Seite an Seite. Einer aus der Schar wurde als Wache am Feuer bestimmt, die übrigen legten sich schlafen. Bald war neben den Geräuschen der Nacht nur noch ihr Schnarchen zu hören. Jesus schloß die Augen, doch wenig später schon öffnete er sie wieder; er spürte Jokanaans Blick in der Dunkelheit wie eine Hand, die sich ihm auf das Gesicht legte.
»Warum schläfst du nicht?« fragte Jesus. »Du brauchst Schlaf, um bei Kräften zu bleiben.«
»Es ist die Freude!« flüsterte Jokanaan. »Deine Rückkehr ist eine solche Erleichterung! Ich habe all diese Jahre über an dich gedacht. Ich kenne sonst niemanden.«
»Wie meinst du das?«
»Niemanden, der außer dir der Finsternis ein Ende bereiten könnte.«
»Warum gerade ich?«
»Das ist ein untrügliches Gefühl. Ich bin Menschen begegnet, die mit aller Inbrunst für ihren Glauben lebten und deren Seele rein und ohne jeden Makel war, aber keiner gleicht dir. Du bist wie alles, was wirklich von der Vorsehung bestimmt ist, und es erscheint völlig natürlich. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß es dich nicht gibt. Und auch nicht, daß es die Welt ohne dich gibt. Du mußt der Messias sein.«
»Und du mußt wissen«, erwiderte Jesus, während die Palmen über ihren Köpfen die Sterne zu verjagen suchten, »daß ich nicht einmal weiß, wie ein Messias auszusehen hat.«
»In Qumran hast du vor dem Rat gesagt, daß du die Vision einer Salbung erlebt hast...«
»Habe ich von Salbung gesprochen? Ich glaube eher gesagt zu haben, daß mir eine Flüssigkeit über den Kopf gegossen wurde. Vielleicht war es nur die Erinnerung an die abendlichen Waschungen...«
»Das paßt alles zusammen.«
»Was paßt zusammen?«
»Ich habe mir oft gedacht, daß dem Messias seine Mission nicht bewußt sein würde. Aber ich halte dich vom Schlaf ab.«
Er erwachte. Jemand hatte ihn beim Namen gerufen. Finstere Nacht war es. Er beugte sich zu Jokanaan hinüber; sein Platz war leer. Irgend etwas Außergewöhnliches spielte sich in der Dunkelheit ab. Jesus sah nach oben und entdeckte Jokanaan, der, einem Schwimmer gleich, auf halber Höhe der Palmen schwebte wie ein Blatt, das sich im Wind wiegte, und ihn anrief. Er erhob sich, um ihn besser beobachten zu können. Dieser verrückte Bursche! Zerbrechlich, wie er war, konnte diese körperliche Belastung jederzeit das flackernde Licht seiner Lebenskerze erlöschen lassen! Zudem schwebte er zu hoch. Bei dieser Höhe wurde nicht nur der Körper auf die Probe gestellt, sondern auch der Geist. Leise rief er Jokanaan. Der reagierte nicht. Dann weckte er einen der Schüler.
»Schon wieder!« entsetzte sich der Mann und rieb sich die Augen. »Und diesmal ist er noch höher gestiegen! Daran bist du schuld!«
»Steig auf meine Schultern und versuch, ihn herunterzuholen«, sagte Jesus.
Doch da drehte sich Jokanaan leicht. Es sah gefährlich aus. Vielleicht stirbt er, dachte Jesus. Langsam begann er zu sinken, mit der Unbeweglichkeit eines Ertrunkenen, der im Wasser unterging. Als seine Füße in Reichweite waren, packte Jesus sie und zog Jokanaan zu Boden. Ob sein Körper wohl immer so leicht war? Er bettete den Eremiten auf die Decke und beugte sich über sein Gesicht, während er ihm die Hände massierte. Seine Augen waren verdreht. Er legte das Ohr an Jokanaans Brust; das Herz schlug unmerklich. »Komm zurück«, flüsterte er mehrere Male. Nach einer Stunde kehrten die Pupillen wieder in ihre normale Lage zurück, aus Jokanaans Brust drang ein Röcheln, dann schlief er ein.
»Er wird sich jetzt erholen«, meinte Jesus, zu Jokanaans Schüler gewandt.
»Überlaß mir deinen Platz, ich werde jetzt auf ihn
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