Ein Mensch namens Jesus
während seine Garde, die Hände am Schwertgriff, an der Tür ein Spalier bildete und die Höflinge sich beeilten, ihm eine angenehme Nacht zu wünschen. »Doch du kannst gerne bleiben. Dienerschaft, Essen, Wein und Tänzer stehen ganz zu deiner Verfügung. Ich wünsche wohl zu ruhen!« Nachdenklich und ernüchtert setzte sich der Legat auf. Er warf einen Blick auf die dösenden, nach all den Genüssen trägen Römer und schüttelte den Kopf. Dieser Orient! Was für ein Labyrinth! Er klatschte in die Hände, um seine Leute zu wecken, die sich mit schweren Lidern und noch fettverschmiertern Mund nur mühsam aufzuraffen vermochten. »Nehmt Haltung an!« befahl er unter den neugierigen Blicken der Bediensteten. Und während er sich zur Tür wandte, wo ihn Fackelträger in Habachtstellung erwarteten, um ihn zu seinem Palast zu begleiten, drang an sein Ohr das Tuscheln und Lachen der Mädchen hinter dem Vorhang.
Am nächsten Morgen schickte er seinen Sekretär nach dem Kammerherrn, der ihm zu seiner persönlichen Betreuung zugewiesen worden war. Als der Würdenträger herbeigeeilt kam, erklärte ihm der Legat, daß er ihn als Führer für einen Stadtrundgang wünsche. Er selbst, sein Sekretär wie auch der Kammerherr sollten wie gewöhnliche Leute gekleidet sein, und der Kammerherr solle ihm alles, was sie zu sehen und zu hören bekämen, erklären und kommentieren. Der Kammerherr verneigte sich, und eine Stunde später verließen die drei Männer den Palast durch eine Dienstbotentür.
Nachdem sie die Talmulde Struthion passiert hatten, gelangten sie zum Tempel. Sie durchschritten die Halle der Heiden. Als er die Königliche Vorhalle betrat, deren Wald von Säulen er bewunderte — die Kapitelle waren in korinthischem Stil gehalten — , wagte der Legat nicht, den eindeutig hellenistischen Stil des gewaltigen Gebäudekomplexes laut zu erwähnen. Er fürchtete, die Gefühle des Kammerherrn zu verletzen. Nichts gab es hier, was sich von den zahlreichen der Religion oder auch Regierungszwecken dienenden Bauwerken unterschied, die er bereits in anderen römischen Provinzen gesehen hatte. Hatten die Juden denn gar keinen eigenen Stil? Er würde hierzu später seinen Sekretär befragen, der ein Architekturkenner war. Seine erste Frage galt einem alten Mann, der sich beim Betreten der Halle demonstrativ die Augen mit einem Ende seines Mantels bedeckte. Mit gezwungenem Lächeln erklärte der Kammerherr, dies geschehe wegen des großen römischen Adlers über dem Frontgiebel. Der Mann sei vermutlich ein Nazarener, das heißt ein Mitglied dieser äußerst strengen Sekte. Durch das heidnische Symbol fühle er sich beleidigt.
Und weshalb weigerte sich jener dort, das Wechselgeld eines Händlers mit den Händen zu berühren, und fing es statt dessen in einem besonderen Tuch auf? Weil die Münzen das Bildnis des Augustus trugen, was gegen das von Moses empfangene Zweite Gebot der Juden verstoße: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen!
Wer waren diese finster dreinblickenden Männer mit dem dichtgelockten Haar und den elegant gestutzten Bärten? Mesopotamier, wahrscheinlich Gewürzhändler. Und jene, mit den glattrasierten Köpfen? Ägypter, die hier sicherlich ihr Zedernholz verkaufen wollten. Und dieser fast nackte Mann, dessen Haut schwarz wie Ebenholz war? Jedermann in Jerusalem kenne ihn, denn er sei der Sklave eines kretischen Arztes, der gute Heilmittel gegen Magenleiden kenne. Und jene feiste Gestalt dort drüben mit dem langen, schwarzen, quadratisch geschnittenen Bart? Ein phönizischer Goldhändler.
Langsam begann der Legat zu begreifen, weshalb diese Mischung von Rassen und Religionen, die man nach dem Namen ihrer früheren Bewohner, der Philister, Palästina nannte, von so flüchtiger Natur sein mußte. Er fragte sich, ob dieses Land jemals zu einer Einheit gelangen würde.
In der Mittagshitze dieses Sommertags im siebenhundertfünfundvierzigsten Jahr nach der Gründung Roms, im vierzehnten tribunizischen Jahr des Augustus und im dreitausendsiebenhundertzweiundfünfzigsten Jahr seit der Entstehung der Welt nach jüdischem Glauben, gärte Jerusalem wie Traubensaft. An der Einfriedung des Quartiers der Heiden erfuhr der Legat, daß er hier nicht weiterdurfte. Niemand habe, wenn er nicht Jude sei, Zutritt zu den Höfen hinter dieser Absperrung. Nicht einmal der Cäsar, bekräftigte der Kammerherr in geradezu herausforderndem Ton. Das Trio wandte sich den Straßen zu, die erstaunlich belebt waren,
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