Ein Mensch namens Jesus
spontane Aufstieg war gestört worden, Angst beherrschte seine Gedanken und erstickte ihn. Was, warum? Er erinnerte sich, daß er nicht allein war. All die anderen! Die Toten! Diese Masse aus Leiden, die jetzt diesen Ort überschwemmte wie ein Meer aus Würmern, das jedes Licht verschluckte, sie, dieses auf ewig verdorbene Fleisch, in dem die alten Liebesworte sich schon seit langem in Gegurgel verwandelt hatten, sie, diese giftige Masse aus zuckenden und schmerzenden Eingeweiden, diese widerliche Schicht, über die er früher mit Leichtigkeit hinweggeschritten war, während er kaum das jammernde Gepfeife und das obszöne Geflüster hörte! Er zitterte vor Schrecken über die Berührung mit dem Bösen, und gleichzeitig hatte er Mitleid. Er seufzte. Herr, rette den Teufel, rette Deine gefallenen Diener, Herr! Und doch wußte er, daß der Teufel und die Seinen erst am Ende aller Tage auf Rettung hoffen durften. Das Ende mußte im Namen der Liebe kommen! Wenn die Flammen des Lichtes vom Himmel fielen, würde alle Materie zerstört werden, und da es für das Böse dann kein Brennholz mehr gäbe, würde das Böse verschwinden... Er keuchte, immer noch auf den Knien, und schwitzte heftig. Das Ende! Nur der Herr wußte, wann Er es einleitete. Aber er, Jesus, mußte es, wie alle Seine Diener, beschleunigen. Sein Blick traf wieder Jerusalem, die Hure, die auf ihrem Lager aus Ungleichheit ruhte, die Scharlachrote Frau, die Quelle aller vergifteten Bäche, die durch Israel rannen. Eine Brise kühlte sein Gesicht. Diese Wahnsinnigen! Sie wollten, daß er Jerusalem heiratete und den Herrn in einem geschändeten Haus feierte! Die blasphemische Hochzeit mit dem Leviatan! Und es waren dieselben, die glaubten, daß er der Messias sei! Der Bote Gottes unter einer Decke mit den Verrätern seines Herrn! Eine Welle des Hasses durchströmte ihn. Er rezitierte: »Mein Herz ist fest, o Gott, mein Herz ist fest!« Doch dann zweifelte er an seinem Haß. Konnte man im Namen des Herrn hassen? Die Verwirrung erschöpfte ihn vollends, er neigte den Kopf und ließ sich zu Boden fallen. Tränen hätten ihn getröstet, aber er konnte nicht mehr weinen.
Eine lange Weile verging, während er regungslos dalag und dem Chaos in seinem Kopf lauschte. Müde setzte er sich auf, und sein Blick kehrte wieder zu der in Finsternis getauchten Silhouette Jerusalems zurück. Eine Vision tauchte tief aus seinem Inneren auf, wie ein Tier, das seit langem schlief und nun voller Heftigkeit erwachte. Er versuchte, es zu verscheuchen, aber zu spät! Er selbst war es, der da auf dem Hügel gegenüber stand, wie ein Schwert in der Hand Gottes, und das Schwert senkte sich unausweichlich in das Herz der Bestie. Sein ganzer Körper war das Schwert, sein Kopf der Knauf, er konnte nichts daran ändern, die Würfel waren gefallen... Eine widerliche, ekelerregende Woge aus lauter kriechenden, grunzenden, brüllenden Teilchen stürzte sich auf ihn. Ihn schwindelte. Es war dunkel, aber diese Woge war rot, und er wußte, was es war, er hatte sie bei seinem Aufstieg zum Licht gestreift, doch die Wesen, aus denen sie bestand, hatten es nicht gewagt, sich ihm zu nähern, weil er sich im Kegel des Lichts befunden hatte... Waren es Teufel oder die Eingeweide der Erde selber — er hatte nicht mehr die Kraft, sich vorzustellen, was es wirklich war, es war nicht nur der Geist des Bösen, dem er auf der Straße nach Qumran gegenübergetreten war, nein, es war etwas anderes, es bereitete ihm heftige Kopfschmerzen, es war so nahe bei ihm, daß er alle seine Kräfte sammeln mußte, um nicht von den Teilchen verschlungen zu werden... Er war mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt. Myriaden von Stimmen, nein, von Tönen, die aus der Wunde strömten, die er der Bestie zugefügt hatte, und von ihnen ging ein Summen aus, das die Nacht zu erfüllen schien. Und dieses Summen machte sich über ihn lustig und gab ihm zu verstehen, daß er machtlos war. Ihm wurde klar, daß er sich in einem riesigen Apparat im Kreis drehen würde, der ihn unausweichlich zermalmen würde... »Gott, hilf mir!« schrie er, aber die Woge dieses Abschaums überflutete ihn und erstickte seine Stimme. Gott war weit weg, zu weit weg... Überraschung gesellte sich plötzlich zum Schrecken. Ja, diese fauligen Fetzen litten! Er spürte ihr Leiden in seinem Fleisch und in seinem Mark. Es waren keine Teufel, litten Teufel denn? Oder aber... Er fiel wieder zu Boden, mit dem Gesicht nach unten, und übergab sich... Die Kopfschmerzen
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