Ein Mensch namens Jesus
Jüngern gewandt hinzu. »Nein, ich werde mich nicht mit Herodes treffen, es sei denn, er will mir nach Galiläa folgen, wohin ich zurückkehren werde.« Und da die Jünger erstaunt wirkten, setzte er hinzu: »Ja, ich verlasse Betanien morgen. Was habt ihr geglaubt? Daß ich zum Tempel zurückkehren würde, um dort einen Aufruhr zu entfesseln? Und mich verhaften zu lassen?«
Sie wirkten fassungslos.
»Jedenfalls«, sagte er zu ihnen, »wenn ihr mir nicht nach Galiläa folgen wollt, so braucht ihr es auch nicht. Wolltest du in den Tempel zurückkehren, Petrus?« Er wandte sich an Simon, den er jetzt Petrus nannte, einerseits wegen seines Schädels, der wie ein Stein glänzte, und anderseits, um ihn von Simon, dem Sohn des Judas, zu unterscheiden. »Und du, Thomas? Nein, du glaubst nicht, daß man Menschen mit Stockschlägen ändert. Aber du, Johannes? Und du, Bartolomäus? Und Thaddäus, und Judas Iskariot? Ihr wolltet doch sicher in den Tempel zurückkehren? Ich habe das Gefühl, ihr wolltet sogar, daß ich euch dorthin führe. Aber wie ich schon gesagt habe: Ich habe nicht die Absicht, mir das Gewand von Hannas anzuziehen.«
Judas Iskariot ließ in Gedanken versunken seine Fingergelenke knacken. Johannes ging mit gerötetern Gesicht hinaus, er war sichtlich erregt und wütend. Jakobus schien verstört. Die anderen waren verlegen.
Jesus ließ sie stehen und machte einen Spaziergang, gefolgt von Thomas. Sie kamen erst zum Abendessen wieder heim, das in fast völliger Schweigsamkeit verlief.
Aber als Jesus am nächsten Tag in der Morgendämmerung erwachte und Thomas wecken ging, fand er sie alle bereit. Sie hatten sogar schon vor ihm ihre Waschungen verrichtet. Im Blau der Dämmerung betraten sie die Straße nach Samaria, den kürzesten Weg nach Galiläa. Vor Mittag waren sie an Bet-El vorbei, in der Abenddämmerung konnten sie den Berg Garizim sehen; sie beschlossen, dort zu übernachten. Jesus hatte den ganzen Tag kaum gesprochen, außer um dem einen oder anderen Jünger alltägliche Fragen zu stellen. Als Judas Iskariot und Andreas das Feuer entzündet hatten, alle auf dem Boden saßen und die Lebensmittel auspackten — Brot, Käse, Oliven, Zwiebeln, gebratenes Geflügel, harte Eier, Datteln und Wein-, ließ Jesus seinen Blick über die Runde wandern. Sie hielten den Atem an. »Wenn ihr Engel wärt«, sagte er, »wüßtet ihr, daß diese materielle Welt leichter als der Staub ist. Ja, mir ist klar, daß ihr es mit eurem Verstand begreift, aber ich bezweifle, daß ihr es in euren Herzen wißt. Selbst der Tempel Salomos wurde zerstört, und keiner hat ihn wiederfinden können, nicht einmal einen Stein. Aber das Geschriebene Gesetz kann nicht zerstört werden«, meinte er und warf Holz ins Feuer. »Du zum Beispiel«, sagte er zu Johannes, der sich wieder neben seinen Herrn gesetzt hatte, »ein Skorpion könnte dich jetzt stechen, und bald wärst du tot. Alles, was Johannes, der Sohn des Zebedäus, gewesen ist, würde zu Staub werden nach einiger Zeit. Aber wenn du in deinem Leben etwas gesagt hast, was es wert ist, daß man es sich merkt, wird man sich an dich erinnern. Deshalb ist Jesaja nicht tot, und auch nicht Daniel und die anderen Propheten. Versteht ihr, was ich sage? Selbst wenn wir den Tempel in Brand gesteckt hätten, was hätte das geändert? Sie hätten einen dritten Tempel gebaut. Deshalb sind nur die Worte wichtig. Hätte es nicht die Worte des Gesetzes und der Propheten gegeben, gäbe es heute keine Juden. Nun, obwohl ihr keine Engel seid, versucht wenigstens, wie eure bessere Hälfte zu denken.«
Er lächelte, und die Spannung, die seit dem Vorabend herrschte, lockerte sich. Auch die anderen lächelten und aßen mit gutem Appetit. »Wie kommt es, daß du besser als wir weißt, was die Engel denken?« fragte Judas Iskariot.
Bei diesen Worten hielt Simon Petrus, der gerade von einer Geflügelkeule und einem Stück Brot abgebissen hatte, mitten im Kauen inne. Das Brot fiel ihm fast wieder aus dem Mund, und seine Augen wurden groß und rund vor Entsetzen über diese freche Frage.
»Vielleicht habe ich weniger Verbindung zur Welt als du«, antwortete Jesus.
»Also wirklich!« rief Simon Petrus mit erstickter Stimme aus, nachdem er heruntergeschluckt hatte. »Du weißt doch, Iskariot, daß unser Meister der Messias ist!«
»Er hat es nie gesagt«, bemerkte Judas.
»Ich habe es nie gesagt, Judas hat recht. Ich denke, wenn ich es wirklich bin, dann wird man es bei meinem Tod wissen. Und ich erinnere
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