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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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euch noch mal daran, daß ihr alle frei seid.«
    »Ich bin es nicht mehr«, sagte Johannes.
    »Ich auch nicht«, echote Natanael.
    Etwas später, als sie zum Schlafen die Decken auf dem kalten Boden ausgebreitet hatten, stützte sich Johannes, der sich wieder dicht neben Jesus gelegt hatte, auf und fragte ihn beunruhigt: »Aber wenn ich ginge, wärst du dann nicht traurig? Würdest du nicht denken, daß ich einen Fehler mache? Würdest du nicht versuchen, mich zurückzuhalten?«
    »Vielleicht würde ich das«, antwortete Jesus. Elifas fiel ihm wieder ein, und er fragte sich, warum es immer die Jüngsten waren, die sich am stärksten an ihn banden. »Aber wenn du mich verließest, würde ich denken, du tätest es, weil ich dich zuerst verlassen habe.« Er wickelte sich in seinen Mantel, und während Thaddäus bei den Maultieren Wache hielt, horchte Jesus noch einmal auf die Stimmen der Nacht, das Geheule, gedämpftes Flügelschlagen, entferntes Gebell, nahes Surren. Als er erwachte, hatte sich Johannes an ihn geschmiegt. Er neigte sich dem Gesicht des Heranwachsenden zu, das vom Schlaf blank und weich war, und betrachtete es lange. Wieder etwas Unreines, so natürlich wie der Haß, die Angst, der Hunger, der Geschlechtstrieb. Zwar gestaltlos und ungeschlechtlich, aber trotzdem Liebe, die Liebe zu dem, was man braucht, wie seine eigene Liebe zu Gott. Aber konnte es nicht eine noch reinere Liebe geben, eine Liebe ganz ohne Bedürfnisse?
     
    Gegen Mittag kamen sie in Sichem an. Während ihrer Wanderung war das Wetter trocken und windig gewesen, und sie hatten viel Staub geschluckt. Die Jünger verteilten sich in der Stadt, die einen suchten nach einer Herberge, die anderen nach den öffentlichen Bädern. Jesus, der vor allem Durst hatte, blieb erst einmal bei einem Brunnen stehen, den man den Jakobsbrunnen nannte, weil er angeblich neben einem Stück Land lag, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. Als er merkte, daß in dem Brunnen kein Eimer war und er warten mußte, bis jemand Wasser herauszog, setzte er sich auf eine Bank und massierte sich die Schultern.
    Ein Landstreicher, dachte er, das bin ich. Was war er gelaufen! Er betrachtete seine Füße. Sie hatten ihn Tausende von Wegstunden getragen, waren vom Schlamm des Nils überzogen, von den Steinen Syriens gehärtet, im Wasser des Euphrat erfroren, zerschnitten und verbrannt auf der glühenden Erde Paphlagoniens und des Pontus, gesalzen von der Gischt der Ägäis, beschmutzt von den Abwässern der Städte Ziliziens... Der Boden Palästinas war weich im Vergleich dazu, aber er war nicht mehr so vertraut, denn es waren schon nicht mehr die Füße eines Palästinensers. Warum hatte er sie so weit umhergelenkt? Was hatte er verfolgt? Ein Licht in der Ferne, lebendig und unerreichbar. Ein Bild seiner selbst, das sich im Licht kristallisierte. Warm und zart, unwirklich und durchsichtig, und doch ihm gleich. Und zu welchem Zweck? Aus einem Verlangen heraus. Verlangen nach Liebe, nach Gott. Er hatte also unrecht, dieser Grieche, den so viele verehrten und der sagte, daß man nur nach Materiellem verlangen konnte! Vielleicht redete dieser Aristoteles für Menschen wie jene, die ihn umgaben, für die, die sein Verlangen nicht verstehen konnten... Nur Thomas vielleicht verstand ihn, weil er schon das Ungenannte, das Unnennbare gesucht hatte. Die anderen hatten ganz sicher noch nicht einmal begriffen, was er seit zwei Jahrzehnten suchte. Sie suchten einen Feldherrn, der sie in den Kampf gegen die Priester führen sollte. Dabei ähnelten sie diesen Priestern so sehr! Wie Falke und Jäger, die denselben Hasen verfolgten!
    Er bemerkte erst, daß sie es war, tatsächlich sie, die da vor ihm stand, als sie ihren Eimer auf den Boden gestellt und die Arme verschränkt hatte. Ihre Augen waren nicht mehr angemalt, und auch ihr Mund war nicht geschminkt. Ihr Gesichtsausdruck war noch desillusionierter als früher und schien zu sagen: Wenn du wüßtest! Saphira aus Skythopolis. Das Haar war jetzt von Silber durchzogen, der Hals immer noch geschmeidig, aber dick geworden. Doch dieselbe Haltung. Außerdem die einzige, die er gekannt hatte, die die höchste Kunst beherrschte, zu nehmen, wenn sie gab, und zu geben, wenn sie nahm. Unendliche Landschaft. Er bewunderte die Kunst, die Gott in ihr entfaltet hatte, die bläuliche Seide unter ihren Augen, das Nasenbein, das unter der Haut durchschimmerte, die vollen, jetzt braunen, jetzt reifen Lippen, das perfekte Verhältnis zwischen Stirn

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