Ein Mensch namens Jesus
aufgeben, aus Angst, ihre jüdische Identität zu verlieren. Nur, um zu Gott zu gelangen, sollten sie ihre Identität aufgeben, sich von ihren Vätern, ihren Traditionen, ihren Gewohnheiten und ihren Lastern trennen? Sicher war ihre Angst berechtigt. Auf all das verzichten — und wofür? Im Grunde wollten sie den Tempel nicht zerstören, sondern ihn sich aneignen. Wenn man erst den Tempel zerstörte, würden sie jeden Schutzes beraubt sein. Was für ein schlauer König Herodes der Große gewesen war! Er hatte verstanden, daß, wenn er den Tempel wieder aufbaute und beherrschte, er ihnen die verlorene Wohnstatt wiedergab und damit seine Herrschaft über sie sicherte! Aber zu Gott gelangen jenseits irdischer Grenzen...
Dieser Nikodemus hatte etwas begriffen: »Man hat mir gesagt, daß die Essener dich geformt haben«, hatte er gemeint, und das war nicht ganz falsch, so groß auch die Abneigung Jesus’ gegenüber dem beengten Denken der Essener sein mochte. Diese Leute hatten in Qumran zwar den direkten Weg zu Gott gesucht, aber sie hatten sich in den Zeilen der Bücher eingesperrt, hatten die Buchstaben der Religion nicht überwinden können, hatten bis ins kleinste die Vorschriften eines Gottes entziffert, der immer ferner rückte, je mehr man Ihn beschrieb...
Jesus hob den Blick. Die Dunkelheit ringsumher nahm ihn weich in sich auf, er spürte das Vertrauen in die Millionen wachsamer Augen des Herrn. Früher hatte er so intensiv gebetet, daß er darüber seinen Körper vergaß. Das war ihm lange nicht mehr passiert, weil er jetzt glaubte, daß Gott dieses Sich-selbst-Preisgeben in den Flammen des Gebetes nicht verlangte. Und auch weil er dachte, daß das übermenschliche Bemühen, seiner Bestimmung zu entfliehen, anmaßend war. Er war ein Mensch, und Gott ging jedesmal, wenn er Ihn anrief, an seiner Seite. Außerdem hatte er bemerkt, daß diese fiebrigen Gebete ihn von der Welt isolierten. Ein Mensch, der das Licht entdeckt hat, will nicht darüber reden, er begnügt sich damit, für sich selber zu wissen, daß es existiert. Dann gleitet er in eine egoistische Ruhe, wie die Leute von Qumran, und das Licht hilft nur ihm selber. So war es in seinen Jahren in Qumran gewesen.
»O Herr, mein Vater«, murmelte er. Er betete jetzt demütiger. »Herr, laß mich für dich leben«, sagte er. Von nun an mußte er seine Freunde wie seine Feinde aus der Fassung bringen. Keine Ausflüge in den Tempel mehr. Es wäre absurd gewesen, hätte man ihn dort verhaftet und ins Gefängnis geworfen, vielleicht sogar in den Tod geschickt. Es war ein Irrtum gewesen, die Händler auszupeitschen; er hätte eher ihrer aller Herrn, Hannas, auspeitschen sollen! Er hatte Glück gehabt, daß er unversehrt den Gefahren des Tempels entronnen war. Von nun an würde er schlau sein wie seine Feinde. Und er mußte Zeit gewinnen. Er ging weiter und erreichte die Seite des Ölbergs, die oberhalb von Jerusalem lag, jener mächtigen Hure, die da auf ihrem Hügel schlief. Der Anblick dieses ruhenden weiblichen Leviatan brachte sein Blut in Wallung. Der Zorn der Propheten auf diese Stadt strömte in ihn. »Hört dieses, ihr Herren von Jakob, Herrschende über Israel«, hatte der alte Josef gesungen, und sein Sohn fand dieselben Töne, »ihr, die ihr die Gerechtigkeit hassenswert macht und sie vom rechten Weg abbringt, indem ihr Zion in vergossenem Blut aufbaut und Jerusalem in der Ungleichheit.« Er flüsterte, bevor er nun zu den letzten Versen kam: »Zion wird zu einem beackerten Feld und Jerusalem zu einem Berg aus Trümmern werden, und der Tempel ein Feld aus Heidekraut!« Hatten sie die Propheten gelesen, diese Menschen, die in Betanien schliefen, von ihren Träumen bei lebendigem Leib aufgefressen? Und all die anderen, die von der Nacht Israels umhüllt waren? Sicher nicht. Was hätte ihnen das Lesen der Propheten auch gebracht? Sie hätten sich genauso elend gefühlt und dennoch dieselben Visionen von Frieden und Gerechtigkeit im Gelobten Land gehabt. Er seufzte auf. Sie wußten nicht, daß die Länder, in denen Milch und Honig fließen, nur einen Frühling lang blühen. Der Honig und die Milch flössen nur dort oben. Hier unten wurde die Milch von Schlangen getrunken, und der Honig zog die Fliegen des Teufels an!
»O Herr!« rief er in die Nacht hinaus, und sein Herz wurde weit und erhob sich, das vertraute Kribbeln stieg ihm wieder in die Finger, seine Füße wurden leichter... Dann Chaos, Finsternis, Schwere und Angst! Er fiel auf die Knie, der
Weitere Kostenlose Bücher