Ein Mensch namens Jesus
antworten müßte, würde ich dich daran erinnern, was im Buch Samuel geschrieben steht, daß nämlich David und Jonathan einen feierlichen Pakt geschlossen hatten, weil einer den anderen wie sich selbst liebte. Das Buch Leviticus verdammt den Beischlaf zwischen Männern wie jeden anderen Beischlaf, der nicht von Liebe beseelt ist. Aber ich will euch allen mit den Worten Samuels antworten: >Der Herr hat nicht denselben Blick wie der Mensch; der Mensch urteilt nach dem Schein, aber der Herr urteilt nach dem Herzen.< Wer von euch könnte sich das Recht anmaßen, irgend jemandem nach dem zu beurteilen, was er in seinem Herzen liest? Es ist Anmaßung und kein Mitgefühl, was ich in euren Fragen entdecke! Warum sollten wir die Pharisäer bekämpfen, wenn wir doch nur in ihre Schwächen verfallen? Wenn ihr doch nur euren Geist für die unsichtbare Welt öffnen könntet, die uns umgibt!« rief er zornig aus. »Dann würdet ihr Dinge sehen, die euch verstehen ließen, wie fruchtlos jede angebliche Sorge um das Gesetz ist! Hier, um diesen Tisch, wimmelt die Luft von leidenden Geistern, von Wesen, denen der Herr den Zutritt zu Seinem Reich verweigert hat, weil ihre Herzen vertrocknet und ihre Seelen grob waren!« Erschreckt blickten sie sich um.
»Du kennst die Kunst des Heilens nicht, Judas Iskariot, aber du müßtest damit anfangen, dich selbst zu heilen! Wie könnt ihr anderen jemanden heilen, wenn ihr keinen Zugang zu den höheren Regionen habt, wo die Kraft ist? Sollten eure Seelen nicht eher versuchen, diese Kraft zu erlangen, als sich von den Legionen abscheulicher Geister zerfetzen zu lassen?«
»Welch schreckliche Worte für ein Essen«, sagte der Gastgeber, der sie eingeladen hatte.
»Die Geister der Toten quälen die Lebenden nicht«, protestierte Simon der Zelot.
»Du versuchst, uns zu erschrecken!« rief Bartolomäus.
»Schweigt, alle!« befahl Thomas. »Ihr seid unselige Unwissende!«
»Wir lassen uns keine Angst einjagen«, protestierte Judas.
Er und noch ein paar andere standen auf und beschimpften Thomas, Andreas, Simon Petrus und Johannes, die sich ihnen widersetzten. Doch Johannes beobachtete dabei aus den Augenwinkeln Jesus. Voller Angst bemerkte er das Zittern, das sich der Hände seines Meisters bemächtigt hatte, die Blässe seines Gesichts, den starren Blick.
Er hörte Jesus flüstern: »So sei es denn!« Dann stand Jesus plötzlich auf, hob die Arme, und die Flammen der Lampen im Zimmer flackerten wild und erloschen. Der Wind schlug die offene Tür zu, schüttelte die Girlanden aus Knoblauch und Zwiebeln an der Decke; eine Karaffe mit Wein fiel um. Der eisige Wind wurde noch stärker, er pfiff und seufzte und fuhr schneidend um die Anwesenden.
»Hilfe, Meister!« riefen die einen, »Hilfe, Herr!« die anderen. Aber die Worte wurden zu Angstschreien, als der Wind ihnen in die Haare fuhr und an ihren Gewändern riß, und ihre Schreie vermischten sich mit dem heulenden Wind.
»Meister!« brüllte Johannes und klammerte sich an Jesus.
»Lerne!« antwortete ihm Jesus hart. »Lerne und bete!« Und er machte sich aus der Umklammerung des Jünglings los. Er hob die Arme. »Allmächtiger Vater!« rief er. »Hab Mitleid mit ihnen! Hab Mitleid mit uns! Schick sie zurück! Zurück! Zurück! Zurück!«
Wirbel erhoben sich, ließen den Staub auf den Balken hochfahren, jemand öffnete die Tür. Die letzten Seufzer verstummten. Vollkommenes Schweigen herrschte in der Dunkelheit.
»Macht die Lampen wieder an«, befahl Jesus. Ein alter Diener brachte aus der Küche eine Fackel und reichte sie Jesus, der eine Lampe nach der anderen wieder anzündete.
Sie lagen alle am Boden, die Mäntel über den Kopf gezogen, und das Zimmer ähnelte einem mit Leichen übersäten Schlachtfeld. Als erster wagte Johannes aufzustehen; er brach in Tränen aus. Einer nach dem anderen setzten sich auch die übrigen auf; dann erhoben sie sich, mit vorsichtigem Blick, als ob sie fürchteten, einer unerträglichen Vision ins Auge blicken zu müssen. Doch sie trafen nur auf Jesus’ erzürnten Blick. Er war schweißgebadet. Er schritt im Zimmer auf und ab.
»Das war nur ein kleiner Ausschnitt aus der unsichtbaren Welt«, sagte er. »Ihr seid nur der niederen Regionen würdig.«
Judas, der Sohn des Jakob, zitterte, als habe er Fieber. Jakobus ging hinaus, um sich zu übergeben. Simon der Zelot saß unbeweglich, wie betäubt, da.
»Vielleicht werdet ihr jetzt verstehen, in welcher Welt ich meine Kämpfe führe. Vielleicht wird euer
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