Ein Mensch namens Jesus
daß es in dir weder Freude noch Träume gibt? Du bist langweilig, Judas! Wir Juden haben die Langeweile satt! Du atmest Angst und Vorurteil! Was macht dieser Mann bei dir, Jesus?« rief sie. »Er ist nicht mehr wert als die Schriftgelehrten, die den Blick abwenden, wenn sie mich sehen, weil sonst die Ausschweifung ihre hochmütigen Masken zerstören könnte!«
»Diese Frau ist betrunken!« schrie Judas Iskariot.
Die Jünger warteten gespannt auf ein Wort, eine Geste von Jesus. Liebe Saphira, mitfühlende Seele, meine Schwester, nein, ich bin kein Aufpasser Gottes. Es stimmt, daß dieser Mann langweilig ist, aber ich will ihn nicht demütigen, denn es ist möglich, daß ihm die Augen aufgehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich gehe«, sagte sie. »Aber nicht, bevor ich euch gesagt habe, wie recht ihr habt, diesem Mann zu folgen, der euch um tausend Ellen überflügelt. Er ist wirklich vom Himmel geschickt. Ich werde es in der Stadt erzählen.«
Gaffer hatten sich zu den Jüngern gesellt. »Bist du wirklich der Messias?« fragte jemand. »Der Messias ist doch auch für die Samariter gekommen? Wirst du unser König sein?«
»Ihr braucht keinen König«, antwortete Jesus. »Ihr müßt nur lernen, den Ruhm des Herrn zu teilen.«
»Wenn du nicht der Messias bist, wer bist du dann?«
»Sag es ihnen! Sag ihnen, daß du der Messias bist!« rief Simon Petrus. »Er ist der Messias!« sagte er zur Menge.
»Ist Gott nicht der König aller Menschen?« meinte Jesus, als ob er Simon Petrus’ Ausbruch nicht bemerkt hätte, und er hob die Stimme. »Warum seid ihr alle so ungeduldig und wartet auf einen Messias, das heißt, einen irdischen König? Selbst wenn Gott ihn schickt, was sollte ein Messias tun, was ihr nicht selber tun könntet? Wendet euch lieber Gott zu, unserem König.«
»Du bist also nicht der Messias«, beharrte ein anderer. »Was willst du dann?«
»Ich bringe euch Sein Wort, und ich sage euch, daß es Zeit zum Ernten ist.«
»Es sind noch mehrere Monate bis zur nächsten Ernte«, erwiderte ein anderer. »Was werden wir denn ernten?«
»Wenn ihr nichts zu ernten findet, dann weil der Sämann die Samen in den Wind gestreut hat und die Vögel sie aufgefressen haben. Aber wenn die Körner in die Furchen gesät wurden, dann wird die Ernte zu groß für eure Scheunen sein.«
»Wovon redet er denn?« fragte ein Mann in der Menge.
»Sie verstehen dich nicht«, flüsterte Simon Petrus, »sag ihnen, daß du der Messias bist!«
»Der eine sät, der andere erntet«, fuhr Jesus fort. »Es ist Zeit für euch, die Ernte einzubringen, die andere vorbereitet haben.«
Die Jünger wurden unruhig. Plötzlich fing Judas Iskariot an zu schreien: »Ehrt den Messias!«
Die, die die Worte über die Ernte nicht gehört hatten, wiederholten seinen Ruf. »Ehrt den, der euch Jahwes Wort bringt! Mit ihm erhebt sich die Morgendämmerung!«
Jesus war fassungslos. Man hatte ihn nicht verstanden, man unterbrach ihn, und man feierte ihn als den, der er nicht war. Sie drückten ihm die Hand, man hatte ihn überlistet. Und so viel Freude, so viel Erwartung in den Gesichtern, wie konnte er sie da enttäuschen! Er war verwirrt. Man brachte Nahrung, man bat ihn, in Sichem zu bleiben. »Ja, ja, wir bleiben«, versicherte Simon Petrus. In wessen Namen? Er suchte Saphira, aber er war allein in dieser Menge, die nach Nieswurz, Henna und Erde roch.
Erst als sie sich bereit machten, die Stadt zu verlassen, kam er auf diesen Vorfall zurück. Er hatte im übrigen die Jünger während seines Aufenthaltes in Sichem nicht oft gesehen, mit Ausnahme von Johannes, der ständig bei ihm blieb wie eine gezähmte Gazelle, stumm, verdutzt, mit verwirrtem Blick. Sie waren damit beschäftigt, Leute zu sehen, die verstehen wollten, was er gesagt hatte, und sich versichern wollten, daß er der Messias war. Sie hatten mehrmals am Tag gegessen und getrunken, und als er sie zu sich rief, waren sie schon nicht mehr nüchtern. Eine Bande mit roten Augen, die vor sich hin gähnte; sie sahen in dem kalten Licht des Wintermorgens nicht gerade frisch aus. Selbst Thomas, der doch besonnen war, und Jakobus, der ein gemäßigtes Naturell besaß, ähnelten Eulen, die der Tag überrascht hatte. »Manche haben Ohren und hören nicht«, sagte er sarkastisch. »Vielleicht wollen manche unter euch der Messias sein?«
»Wenn du es nicht sein willst, wird man einen brauchen«, meinte Judas
Iskariot.
»Der Weg steht euch offen«, sagte Jesus.
»Aber ich kann keine
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