Ein Mensch namens Jesus
und Nase, Kinn und Nase, die Feinheiten, die sich in den zarten Falten um ihren Mund eingeschrieben hatten. Sie betrachtete ihn eine Weile, als wenn auch sie versuchte, eine Antwort aus der Form seines Kiefers oder der dunkleren Färbung seines Bartes zu erhalten.
»Ich dachte mir, daß ich dich wiedersehen würde«, sagte sie. »Man hat mir gesagt, ich könnte dich am Jordan treffen.«
Zwanzig Jahre schon. Eine lange Zeit für einen Mann, aber für eine Frau erst...
»Gib mir zu trinken«, bat er.
»Ich bin Samariterin. Würdest du von einer Samariterin etwas zu trinken annehmen?«
»Ist dies nicht der Jakobsbrunnen? Ist sein Wasser nicht für alle Männer und alle Frauen gut?«
Sie ließ den Eimer in den Brunnen hinunter, ließ das Seil mit einigen schnellen Bewegungen hinabgleiten, so daß die Muskeln ihrer nackten Arme hervortraten. Dann zog sie ihn wieder hoch, und diesmal traten ihre Brüste hervor. Aus ihrem Rock zog sie eine Kelle, die sie mit Wasser füllte und ihm reichte. Er setzte sich und trank reichlich. In dem Moment kam Matthäus zurück. Jesus nahm seinen Blick über den Rand der Kelle wahr und trank weiter. Matthäus näherte sich mit steinernem Gesicht. Dann kamen Johannes und Simon Petrus. Eine Frau, zweifellos eine samaritische Hure, und ihr Herr trank von ihrem Wasser!
Simon Petrus räusperte sich. »Wir haben die Lebensmittel«, meinte er, als wolle er dieser skandalösen Begegnung ein Ende setzen.
Wie arm ist der, der die wilde Feige auf seiner Straße verachtet! Simon Petrus, du, den man in behüteten Gärten aufgezogen hat! Jesus trank noch einmal, schüttete dann den Rest seiner letzten Kelle auf den Boden.
»Und wenn der Durst des Reisenden gestillt ist«, sagte Saphira, »was nützt ihm dann die Wasserkelle?«
»Es gibt nicht nur einen Reisenden. Alle Menschen sind Reisende. Und der Durst ist wie das Wasser ein Geschenk Gottes.«
»Du redest wirklich wie ein Prophet«, sagte sie. »Man hatte mir sogar gesagt, du seist der Messias. Heißt das, daß in deinem Mund kein Platz mehr für gewöhnliche Worte ist?«
»Frau!« schrie Simon Petrus und hob die Arme, wobei nicht klar war, ob aus Empörung oder um ihr zu drohen.
Aber Saphira hob nur die Schultern. »Ich sag’ es dir noch einmal, ich habe dich gesucht. Aber bist du nur gekommen, um den Worten, die in den Büchern stehen, neue hinzuzufügen?«
»Meister, bring diese Frau zum Schweigen!« schrie Simon Petrus. »Wenn du das, was die Leute sagen, nicht hören kannst«, erwiderte Jesus, »wie sollen sie dir dann zuhören?« und an Saphira gewandt: »Wen suchst du? Wenn es weder ein Prophet noch ein Messias ist, so muß es wohl ein Ehemann sein.«
»Ich bin über das Heiratsalter hinaus«, meinte Saphira. »An dem Abend, nachdem du Skythopolis verlassen hattest, habe ich geträumt, daß meine Hände die Sterne erreichten. Ich pflückte sie vom Himmel und warf sie in Körbe, die an meinen Hüften hingen.« Thomas, Andreas und Bartolomäus waren auch gerade gekommen. Sie betrachtete die schweigenden Jünger und wandte sich dann an Jesus.
»Nein, ich suche keinen Ehemann. Ich bin die Männer leid, alle Männer, die Helden wie die Sklaven, diese endlose Armee, die zwischen Windeln und Leichentuch dahinkriecht. Ich bin sie leid, diese Fresser von Gold und Fleisch. Ich dachte, du könntest tatsächlich der Messias sein, weil du immer vom Himmel gefallen zu sein scheinst, und ich weiß nicht, was du frißt. Weder Gold noch Fleisch! Du bist auch kein Priester, das heißt, ein Gesetzeshüter oder ein Aufpasser Gottes.« Sie ließ ihren Blick kühn über die Jünger schweifen. »Sag ihnen, Jesus« — sie kannte seinen Namen, sie nannte ihn so, wie es keiner von ihnen wagte-, »sag diesen Männern, die dir folgen, warum so viele Juden zu anderen Religionen konvertieren. Wenn sie es wüßten, würden sie einer Frau wie mir nicht so verächtliche Blicke zuwerfen, oder auch jenen, die ihr verderbtes Herz nicht hinter den Gebetsriemen verbergen, die nicht lächeln, aus Angst, ihre kaputten Zähne zu zeigen!«
»Und warum konvertieren die Juden zu anderen Religionen?« fragte Judas Iskariot mit dünnem Lächeln.
»Wie heißt du?« warf sie ihm hin.
»Judas Iskariot.«
»Iskariot! Ich brauche einen Spiegel, Mann! Hat denn keiner hier einen Spiegel, damit Iskariot darin sehen kann, warum die Juden zu anderen Religionen übertreten?« Und sie beugte sich zu Judas. »Siehst du denn nicht, was selbst ein Kind sehen könnte? Siehst du nicht,
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