Ein Mensch namens Jesus
Salbung empfangen hat«, murmelte Hippolytos. »Ist er euer neuer Hoherpriester?«
»Nein.«
»Hat Rom etwa in einer seiner Provinzen einen neuen König ernannt?« fragte Hippolytos mit einem Anflug von Ungeduld.
»Nein.«
»Was versteht ihr dann unter Khristos?« beharrte Hippolytos. »Nur Hohepriester und Könige erhalten die Salbung!«
»Er wird sie empfangen«, entgegnete Thomas.
»Ihr seid also Propheten«, folgerte Hippolytos. »Es ist schon seltsam, daß einzig und allein die Juden Propheten sind. Weder die Griechen noch die Römer und auch nicht die Parther oder die Ägypter haben oder hatten je Propheten. Die Juden blicken immer in die Zukunft, und jetzt also warten sie auf einen König.«
Er stand auf, und der Syrier eilte herbei, um ihm in seine Kleider zu helfen.
»Ich denke, unser Essen wird gleich fertig sein«, sagte er.
»Du mußt Gott fürchten!« mahnte Natanael mit erhobener Stimme. »Und du, warum fürchtest du denn Zeus nicht?«
»Er ist nicht mein Gott.«
»Jahwe ist auch nicht meiner«, gab Hippolytos zurück, »und ich drohe dir ja auch nicht mit den Blitzen des Zeus. Der Glaube schließt höfliches Benehmen keineswegs aus.«
Er reichte dem Syrier eine Münze, der daraufhin eine Verbeugung nach der anderen machte. Alle drei verließen sie das Badehaus. Der Abend war kühl und klar. Sie gingen zu dem Haus ihres Gastgebers, einem sehr großen und reich geschmückten Haus mit zahlreichen Dienern. Das Essen wurde aufgetragen; es gab blumig duftenden Wein, hervorragenden Fisch, erlesenes Geflügel und schmackhaftes Brot. Über Natanaels Gemüt hatte sich wieder ein Schatten gelegt. Thomas sprach von Magie, vom Geist und von der Materie, von der Heilkraft der Tonerde für die Eingeweide und von den positiven Einflüssen verschiedener Musikrhythmen auf die Stimmung. Und ebendiese brillante Wortführung, die Leichtigkeit, mit der er eine Idee aufgriff, sie von verschiedenen Seiten beleuchtete, um sie so in bestern Licht darzustellen, bevor er auf einige Trugschlüsse hinwies und den ganzen Gedanken wieder verwarf, regten Natanael im selben Maße auf, wie sie ihren Gastgeber anregten. Welchen Nutzen hatte diese Zurschaustellung »griechischer« Geistesbildung? War diese elegant verpackte Skepsis überhaupt mit der heißen, erobernden Inbrunst eines Herolds des Messias zu vereinbaren? Warum hatte Thomas, seit sie am Tisch saßen, noch kein einziges Mal Jesus erwähnt?
Thomas erriet die Gedanken seines Gefährten, als er so, nach Art der Römer auf seinen linken Arm gestützt, auf dem mit einem Teppich bedeckten Triklinium vor dem Tisch lag. Er warf einen gespielt bewundernden Blick auf den in Stein gehauenen Widderkopf auf seinem Alabaster-Rhyton und meinte dann ganz beiläufig, daß sein junger Freund offensichtlich darauf warte, endlich den Grund ihres Aufenthalts in dieser Stadt der Dekapolis bekanntzugeben.
»Ihr habt ihn in den Bädern schon erwähnt«, bemerkte Hippolytos, »und habt mich damit nicht überzeugt.«
»Ja, auf den ersten Blick«, entgegnete Thomas, »mag unser Beweggrund nur für Juden, ja sogar nur für einige unter ihnen, von Interesse sein. Auch scheint es recht abwegig, daß er reiche Leute wie dich, Hippolytos, interessiert. Aber bei näherem Hinsehen könnte sich diese Sichtweise ändern. Die Religion ist nicht nur ein Pfeiler für Städte und Königreiche, wie das in Rom der Fall ist; sie ist auch eine persönliche Angelegenheit, eine Möglichkeit, in enge Beziehung zu einer unsterblichen Macht zu treten. Ich würde sie als eine Gewissensfrage bezeichnen, mein lieber Hippolytos. Es ist schwierig, einen fruchtbaren Umgang mit den überirdischen Mächten zu pflegen, wenn man ständig den Gesprächspartner wechselt und von einer imaginären göttlichen Ausdrucksform zur nächsten springt, von Athene zu Hera und von Apollo zu Dionysos. So verfällt man letztendlich in eine gewisse Unbeständigkeit. Die Gottheit ist keine Münze mit zwei Seiten und auch kein am Himmel hängender Spiegel, wie du anzunehmen scheinst.«
Hippolytos lächelte. »Mein lieber Thomas«, erwiderte er, »aber ihr Juden habt doch genau das getan, was du uns Nichtjuden vorwirfst! Ihr habt unseren Zeus zu einem anderen, noch väterlicheren Gott gemacht, und der einzige große Unterschied zwischen den beiden ist der, daß ständig der Zorn eures Gottes über euch zu hängen scheint und der Widerschein eurer Ängste im Himmelsspiegel euch schließlich so stark in Mitleidenschaft gezogen hat, daß
Weitere Kostenlose Bücher