Ein Mensch namens Jesus
ihr euer ganzes Leben in zitternder Furcht und Schrecken verbringt!«
»Alles, was recht ist!« schnaubte Natanael empört.
»Wir haben es vielleicht ungeschickt angestellt«, räumte Thomas ein, »aber wir sind der immateriellen Wesenheit Gottes gewiß viel näher gekommen als ihr.«
»Diese Äußerung scheint mir entweder von mangelndem Respekt oder von fehlenden Kenntnissen zahlreicher Religionen, wie dem Mithraskult oder der Religion der Ägypter, zu zeugen. Wenn unsere Götter deiner Meinung nach zu menschlich sind, so kann ich dir nur entgegenhalten, daß Mithras und Osiris geradezu übermenschlich sind. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß die menschlichen Götter viel zugänglicher sind und den Sterblichen folglich weit mehr Trost spenden als so furchterregende Götter wie der eure. Das beweist allein schon die Tatsache, daß es in den Zehn Städten geradezu wimmelt von Juden, die sich, ihrer Angst endlich überdrüssig, Wein, Weib und Gesang hingeben. Außerdem wissen wir alle, daß die Juweliere der Dekapolis fast ausschließlich vom Handel mit heidnischen Amuletten leben, da sie in den Juden gute Abnehmer finden«, bemerkte Hippolytos, während er sich Wein nachschenkte. Daraufhin wandte er sich Natanael zu: »Wenn du eine jüdische Frau entkleidest, dann wirst du schon sehen, wie viele Abbilder Baals neben den Gebetsriemen auf ihrer Brust hängen, und wenn du einen Blick unter ihre Matratze wirfst, wirst du staunen, wie viele kleine, namenlose Götter mit erigiertem Glied dort schlummern! Frag doch die Besitzer unserer Bordelle, die am allermeisten auf blutjunge Sklavinnen, vor allem Nubierinnen, aus sind. Was ist das für ein Glaube, der...«
»Nein!« rief Natanael.
»Doch«, gab Hippolytos zurück, »ich weiß, wovon ich rede! Was ist das also für eine Religion, die die Menschen zwingt, im Krieg mit sich selbst zu leben? Bei mir, meine Lieben, seid ihr jedenfalls an den Falschen geraten. Bei allen, die Macht und Ruhm besitzen, werdet ihr, wie du schon sagtest, Thomas, auf taube Ohren stoßen.« Er leerte sein Rhyton und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ihr müßtet Bettlern predigen, Kranken, Ausgestoßenen, Verbrechern, Sklaven, Prostituierten, all jenen von den Göttern selbst Verdammten. Sie allein hoffen auf einen Befreier. Wir Heiden hingegen, wir sind schon frei.«
Drückende Stille herrschte im Raum, wie ein bleischwerer Vorhang legte sie sich über die bunten Girlanden an den Wänden und über die bestickte Tischdecke. Natanael richtete sich von seinem Lager auf, schlüpfte in seine Sandalen, verbeugte sich schweigend vor dem Hausherrn und ging hinaus. Auch Thomas setzte sich auf.
»Das war ein fürstliches Abendessen«, meinte er.
»Nur eine kleine, deinem Wissen und der Unschuld deines Freundes unwürdige Ehrerbietung«, antwortete Hippolytos mit abwesendem Blick.
Draußen, an einer Mauer lehnend, wartete Natanael. Thomas stellte sich breitbeinig vor ihn hin.
»Ich bin verzweifelt«, sagte Natanael. »Ich fühle mich ausgelaugt und schmutzig.«
»Dein Glaube ist viel zu schwach«, entgegnete Thomas. »Mir geht es nicht so wie dir. Jedenfalls bekommt man nur auf steinigem Gelände geübte Beine. Oder aber man gerät außer Atem, so wie du.«
»Ich bin verloren!« schrie Natanael in die einsame Nacht. »Was kannst du oder irgend jemand anderer mir noch an Trost spenden? Ich stehe hier und frage mich, ob ich nicht vielleicht wahnsinnig bin oder du ein lasterhafter Mensch, und womöglich ist Jesus selbst verrückt. Vielleicht trifft auch alles gleichzeitig zu.«
»Komm, gehen wir«, schlug Thomas vor. »Was bringt dich auf den Gedanken, daß Jesus verrückt sein könnte?«
»Wie bitte!?« Natanael schrie beinahe. »Weißt du denn nicht mehr, was er im Haus des Simon Petrus gesagt hat? Oder solltest du es schon wieder vergessen haben? Daß er gekommen ist, um den Sohn gegen seinen Vater aufzubringen? Und dabei durchklingen ließ, er sei die nahende Vollkommenheit?« Er seufzte. »Wie habe ich doch mein Leben vergeudet!«
Sie waren an einer der breiten und hell erleuchteten Verkehrsadern von Hippos angelangt. Ein Knabe zog mit einem blumenbeladenen Esel an ihnen vorüber; sicherlich waren die Blumen zur Destillation von Duftessenzen bestimmt. Der Junge streichelte den Kopf des Tieres und hielt ihm eine Karotte hin.
Natanael brach in Tränen aus. »Warum habe ich mich nur dazu entschlossen, einem Mann zu folgen, der mich gegen meinen eigenen Vater aufbringen will
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