Ein Mensch namens Jesus
und in dessen Namen ich womöglich noch im Gefängnis ende! Und dabei verlief mein Leben so ruhig...«
»Niemand zwingt dich, ihm zu folgen«, warf Thomas ein.
»Ich liebte ihn.«
»Vielleicht liebst du ihn nur oberflächlich. Das kommt vor.«
»Und du, warum folgst du ihm?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Thomas und wiegte dabei bedächtig seinen Kopf. »Er besitzt einen Schlüssel... «
»Welchen Schlüssel?«
»Ich weiß nicht, ob du mich verstehen wirst. Er zeigt uns, daß die Gottheit in Wahrheit in uns geboren werden muß.«
»Und der Preis dafür ist unser Leben?«
»Wozu nützt denn das Leben, wenn man nichts damit kauft?«
»Warum hat er sich nur so verändert, seit er aus den Bergen zurückgekehrt ist?«
»Jokanaan wurde festgenommen, und bald wird er tot sein.«
»Und?«
»Jokanaan hätte der Messias sein können. Nun bleibt nur noch Jesus. Jetzt darf nicht mehr gezögert und gezweifelt werden. Jeder muß seine Aufgabe erfüllen. Jesus hatte recht, als er sagte, er sei gekommen, um den Sohn gegen seinen Vater aufzubringen. Alle Väter werden an der alten Religion festhalten.«
»Der alten Religion?«
»Die jüdische Religion liegt im Sterben.«
»Sind wir denn keine Juden mehr?«
»Ich glaube, die Juden sind dazu aufgerufen, sich zu ändern«, erwiderte Thomas. »Schwere Zeiten kommen auf uns zu.«
Sie kamen am Hippodrom an. Es roch nach Pferdemist.
»Und wir haben noch keinen einzigen Menschen getauft«, bemerkte Natanael.
»Aber wir haben eine gute Lehre erteilt bekommen. Die Reichen werden uns kein Gehör schenken, ganz wie Hippolytos es angekündigt hat. Morgen gehen wir also in die Armen viertel.«
»Ich bin todmüde«, sagte Natanael. »Ich möchte nur noch schlafen, schlafen, schlafen...«
XVI.
Hannas, der Realist
Josef von Arimathäa hatte Probleme mit der Verdauung. Da er nur zwei Löffel Quark und drei getrocknete Feigen gegessen hatte, vermutete er, daß eigentlich nur seine verdrießliche Stimmung daran schuld sein konnte. Er hatte eine bestimmte Vorahnung von etwas Kaltem und Klebrigem, dem er in Kürze ausgesetzt sein sollte. Und die Gruppe Seminaristen, der er begegnete, als er sich einen Weg durch den Tempelbazar bahnte, war auch nicht dazu angetan, seine Laune zu heben. Am hellichten Tag liefen sie mit geschminkten Lippen umher wie Huren, in ihren bunten, bestickten Jäckchen, die sie bis zum Nabel offen trugen, um ihren muskulösen Oberkörper nur ja zur Geltung zu bringen, nein, so etwas! Er hatte diese jungen Leute sogar im Verdacht, daß sie sich ihre Brustwarzen mit Koschenille oder Henna färbten. Sie alle waren Söhne der Sadduzäer und machten sich über seine pikierte Miene nur lustig. Und das alles mußte ihm genau jetzt widerfahren, da er dem Ältestenrat gegenübertreten mußte, den er um eine außerordentliche Sitzung gebeten hatte! Mit diesem Halunken Gedalja würde er das zweifelhafte Vergnügen haben...
Da war er ja auch schon, er und sein Lächeln. »Friede sei mit dir, Josef.«
Josef unterdrückte einen Seufzer. »Friede sei mit dir, Bruder Gedalja.«
Ein paar Tauben verirrten sich zwischen ihre Füße, und um ihnen auszuweichen, vollführte Gedalja hysterische Sprünge, als wären sie Ratten.
Gleichzeitig mit Josef und Gedalja trafen auch die anderen Mitglieder des Sanhedrin am hasmonäischen Palast ein. Begrüßungen und Segenswünsche wurden ausgetauscht, auf kurze Fragen nach dem Befinden folgten lange, ausführliche Antworten. Sie nahmen ihre Plätze auf den Rängen ein. Das Licht schmerzte Josef von Arimathäa in den Augen.
»Unser ehrwürdiges und allseits geachtetes Ratsmitglied, Josef von Arimathäa, hat uns um diese Versammlung gebeten, um unsere Meinung über einen seiner Ansicht nach äußerst wichtigen Punkt zu hören«, kündigte Gedalja an.
Josef konnte sich gerade noch zurückhalten, seinen Unmut zu zeigen; er hatte nie gesagt, daß die von ihm aufgeworfene Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit sei, aber er sah schon ein, daß eine außerordentliche Versammlung des Hohen Rates auch einer besonderen Begründung bedurfte, und im Grunde handelte es sich ja tatsächlich um eine sehr dringliche Frage.
»Bitten wir den Allmächtigen, uns mit Seinem Rat beizustehen«, sagte Gedalja.
Hannas, der Hohepriester, legte seinen Fächer weg und begann mit unverändert gelangweiltem Gesichtsausdruck lautlos seine Lippen zu bewegen. Josef hingegen betete nicht; er war verärgert. Dem Gebet folgte ein Augenblick
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