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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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der mittlerweile völlig durchfroren, verstört und durstig war, wurde in ein Vorzimmer gestoßen. Eine schwere Flügeltür öffnete sich. Das aufgeregte Stimmengewirr, das bis zu diesem Augenblick hinter ihr geherrscht hatte, erstarb schlagartig. Schweigen legte sich über die Versammelten.
    Da standen sie nun vor ihm. Siebzig Männer. Siebzig Männer, die mitten in der Nacht, in der Stunde der Träume, ihre Betten verlassen hatten, um über den Überbringer eines Traumes zu Gericht zu sitzen. Jesus straffte sich. Man schien auf eine herausfordernde Haltung von seiner Seite gefaßt zu sein. Immer noch herrschte Schweigen.
    »Bist du Jesus, Sohn des Zimmermanns Josef, geboren zu Bethlehem?«
    »Ja, der bin ich.«
    »Du wirst heute vor Gericht gestellt, um vor dem Gesetze Israels Rede und Antwort für deine Taten zu stehen.«
    Dann ergriff Gedalja, der als Oberhaupt der Tempelpolizei die Anklage vertrat, das Wort: »Hier also seht ihr den Mann, der jahrelang die Gesetze des Allmächtigen und der Menschen in den Schmutz gezogen hat. Er hat ehrwürdige Bürger beschimpft, zweimal im heiligen Tempel Unordnung gestiftet und Partei ergriffen für die Zeloten, die doch die Feinde unserer Gesellschaft sind. Er hat Hexenwerk getrieben, wie man es von heidnischen Magiern kennt, dabei jedoch verkündet, daß er die Leute durch Gottes Willen heile. Er hat gedroht, er werde den Tempel zerstören und ihn innerhalb von drei Tagen wiederaufbauen. Und schließlich hat er sogar am heiligen Sabbat sein Hexenwerk nicht unterlassen, er hat in seinen Reden die Leute zu Kannibalismus aufhetzen und diese Versammlung in Mißkredit bringen wollen. Ein jeder dieser Anklagepunkte für sich allein würde schon eine harte Strafe verdienen. Doch diese Verbrechen sind lediglich Bagatellen und Kratzer auf dem Stein des Gesetzes gegen die beiden ungeheuerlichen Lügen, die dieser Mann hier wieder und wieder verbreitet hat und von seinen Handlangem verbreiten ließ.«
    Gedalja legte eine kurze Atempause ein und ließ seinen Blick über die Reihen der Versammelten schweifen, jener siebzig Männer, den Hohenpriester nicht mit eingerechnet, die den gesamten Sanhedrin ausmachten. Hie und da verriet das hereindringende Licht des dämmernden Morgens in fahlen Gesichtern die Spuren einer schlaflosen Nacht voller Sorge und Aufbegehren. Unbeweglich hörte Jesus zu, als sei er zu Stein erstarrt.
    »Verehrter Vater dieser Versammlung«, fuhr Gedalja fort, »erlaube mir, mich vor dir der schrecklichen Bürde zu entledigen, die in der Nennung der Sünden des Angeklagten besteht. Denn, meine Brüder und Väter, man kann sich auch noch auf andere Art als durch die Berührung eines Leichnams oder einer Frau während der Regel entehren. Auch Worte können beschmutzen, wenn sie auf gottlose Weise ausgesprochen werden. Dieser Mann also hat behauptet, er sei zugleich der Sohn des Allerhöchsten und der Messias!«
    »Ist das bewiesen?« meldete sich die schwache Greisenstimme Bethyras, des Gelehrten der Halacha, des rabbinischen Rechts. »Dreiundzwanzig Zeugen haben es beeidet, hinzu kommen noch die Rabbiner etlicher Städte in Galiläa, deren Zeugenaussagen dem Gerichtsschreiber hier vorliegen«, antwortete Gedalja.
    »Die Anzahl der Beleidigungen ist ungemein groß«, meinte Esra ben Matthias. »Ich schlage eine Gesamtbuße für diese unglaublich vielen Sünden vor, die nach dem Passah-Fest erfüllt werden soll.«
    »Dein Antrag wird sorgfältig geprüft«, erwiderte Gedalja. »Inzwischen jedoch müssen wir hier noch vor Mittag darüber befinden, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Dies ist unsere Aufgabe heute morgen.«
    Lautes Stimmengewirr erhob sich, angeführt von den Gefolgsleuten des Kaiphas. Sie spielten die Empörten und riefen bereits: »Schuldig!«, um die Sache anzuheizen. Bethyra hob die Hand. Stille kehrte wieder ein. Wie die meisten Sachkundigen der Halacha hatte sich auch Bethyra geweigert, sich zu Kaiphas’ geheimem Plan zu äußern; niemand wußte, wie er über ihn dachte.
    »Wir haben hier, an diesem Ort«, erinnerte Bethyra, »bereits einmal die Frage des messianischen Anspruchs untersucht, und wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt, sind wir damals zu dem Schluß gekommen, daß der Anspruch als solcher keineswegs sündhaft ist. Da nun diese Sitzung noch vor Mittag abgeschlossen werden soll und kaum zu erwarten steht, daß die Versammelten ihre Meinung hierüber geändert haben, schlage ich vor, diesen Anklagepunkt zu streichen, um

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