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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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religiösen Grundkenntnisse vermittelt. Ausschlaggebend waren in dieser Hinsicht die persönlichen Überzeugungen und das Alter des Erziehers, und dies um so stärker, als Josef Mitglied einer überaus strengen Sekte war, der Sekte der Nazarener, deren pedantischer Purismus Jesus meiner Meinung nach zum Anhänger der ebenfalls sehr strengen Lehre der Essener werden ließ, die allerdings chiliastisch, das heißt apokalyptisch ausgerichtet war. Darüber hinaus lehne ich auch die Behauptung ab, der zufolge Josef seinen zweiten Beruf als Zimmermann in Nazaret ausgeübt haben soll. Durch die Ausgrabungen dort kam man zu der Erkenntnis, daß die Synagoge von Nazaret nicht mehr als rund vierzig Personen fassen konnte. Wie hätte ein Zimmermann, der sich obendrein erst als Achtzigjähriger dort niedergelassen haben soll, in einem so kleinen Nest seinen Lebensunterhalt bestreiten können? Warum also gibt es überhaupt die Legende von »Jesus aus Nazaret«? Sie basiert meiner Meinung nach auf einer Verwechslung späterer Kopisten, die, weil sie von jüdischen Angelegenheiten so gut wie keine Ahnung hatten, unter dem Begriff »Nazarener« einen Einwohner Nazarets verstanden; das Aramäische, die zur damaligen Zeit in Palästina meistgesprochene Sprache, unterschied jedoch ganz eindeutig zwischen Nàzàri, was soviel bedeutet wie »der Beachtende«, also jemand, der der Sekte der Nazarener angehört, und »Nazéri«, einem Einwohner Nazarets.
    Außerdem bringt eine selbst nur flüchtige Analyse der Reise, die Josef vor Jesus’ Geburt von Nazaret nach Bethlehem unternommen haben soll, um seinen Sohn — wie der römische Volkszählungserlaß verlangte — einschreiben zu lassen, die Hypothese von der Niederlassung in Nazaret noch mehr ins Wanken, ja schließt sie letztendlich völlig aus. Die Wegstrecke von Nazaret nach Bethlehem hätte an die achtzig Kilometer betragen, wenn Josef eine der zwei Straßen im Landesinnern gewählt hätte, und rund hundertzwanzig, wenn er den weit ungefährlicheren Weg entlang der Küste genommen hätte; Wegelagerer und Diebsgesindel machten die beiden anderen Straßen unsicher. Im ersten Fall hätte die Reise auf dem Eselsrücken vier Tage gedauert, im zweiten Fall sechs. Es ist kaum anzunehmen, daß ein auch noch so schlecht unterrichteter Mann — und doch erst recht nicht Josef, der schon Witwer gewesen war und mindestens sechs Kinder hatte, worauf ich später noch zurückkomme — bewußt die Gefahren außer acht gelassen hätte, die eine so beschwerliche Reise für eine hochschwangere Frau mit sich bringt und sie vielleicht sogar der Schande einer Fehlgeburt aussetzt. Und all das nur, um ein Kind, das nicht einmal sein eigenes war, in der Stadt seiner Vorfahren einschreiben zu lassen! Die Hypothese ist um so unhaltbarer, als Josef sein Kind problemlos in einer nahe gelegenen Stadt hätte einschreiben lassen können, zum Beispiel in Cäsarea in Samarien oder im galiläischen Tiberias. Zudem kann man sich fragen, ob Maria, so jung sie auch gewesen sein mochte, bei einem derart ausgefallenen Vorhaben nicht doch ein Wörtchen mitzureden hatte. Daher meine Schlußfolgerung: Die Reise von Nazaret nach Bethlehem hat niemals stattgefunden. Sie ist eine Erfindung der Kopisten, die sich übrigens noch viele andere Freiheiten bei der Niederschrift unserer heutigen synoptischen Evangelien herausgenommen haben und die, nachdem sie sich dieses »Nazaret« nun einmal aufgehalst hatten, eifrig bemüht waren, ihren Bericht schlüssig zu gestalten. Josef begab sich von Jerusalem aus nach Bethlehem. Diese Reise ist viel kürzer und vollkommen plausibel, da der alte Priester ja aus Bethlehem stammte. Übrigens verliert der Evangelist Johannes kein Wort über Nazaret, nur in den sehr oft überarbeiteten Evangelien von Lukas, Markus und Matthäus findet dieser Ort Erwähnung.
    Wie konnte es geschehen, daß ein so grundsätzlich gestrenger Mann wie Josef, der schon einmal verheiratet gewesen war — sogar in den kanonischen Evangelien ist nämlich von Jesus’ Geschwistern die Rede-, eine so schwierige Ehe einging, die ihn notgedrungen zu Jesus’ Adoptivvater machte? In Wirklichkeit wurde der Priester zu diesem Schritt gezwungen. Nach dem Protevangelium des fakobus hatte ihn der Hohepriester zweifellos deshalb zum Vormund der jungen Maria bestimmt, weil er ein ehrbarer Mann war, wahrscheinlich aber auch, weil das Los — eine Taube, die auf seinem Haupt gelandet war — für ihn entschieden hatte, wie das im

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