Ein Mensch namens Jesus
Tempel der Brauch war. Wie wir aus dem Protevangelium erfahren, weigerte er sich zunächst. Da erteilte ihm der Hohepriester den Befehl, Maria in seinem Haus aufzunehmen. Nebenbei bemerkt ist dies ein weiterer Beweis dafür, daß sich die Angelegenheit in Jerusalem abspielte — denn der Hohepriester reiste auf der Suche nach einem Vormund nicht im Land umher — und daß Josef sehr wohl im Tempel arbeitete. Warum nun weigerte er sich? Weil er alt war. Nach dem arabischen Kindheits-Evangelium soll Josef mit vierzig Jahren zum erstenmal geheiratet und seine erste Frau, die ebenfalls Maria hieß, neunundvierzig Jahre später verloren haben; zu diesem Zeitpunkt jedoch soll er bereits seit einem Jahr mit Maria verheiratet gewesen sein. Vermutlich ging das arabische Evangelium recht großzügig mit den Zahlen um im Bestreben, Josef zu einer testamentarischen Langlebigkeit zu verhelfen. Neunundachtzig Jahre also — ein beachtliches Alter, das zwar eine Heirat nicht ausschließt, aber doch nicht recht der Realität entsprechen kann, denn in diesem Fall hätte Josef ungefähr hundertfünf Jahre alt werden müssen, um, wie die Evangelien berichten, in der Passah-Woche mit seinem vierzehnjährigen mündigen Sohn im Tempel zu erscheinen. In Wirklichkeit war Josef wohl etwas jünger, und ich schätze ihn bei seiner zweiten Heirat auf höchstens achtzig.
Josef war Vater von vier Knaben gewesen, deren Name von Quelle zu Quelle verschieden lauten: Jakobus, Josef, Simon und Judas nach dem Matthäus-Evangelium (13, 55-57); Jakobus, Justus, Simon und Judas nach den Apokryphen. Außerdem hatte er nach der apokryphen Geschichte vom Zimmermann Josef noch zwei Töchter, Lydia und Ly-sia. Man vermutete, daß die Halbbrüder zu Jesus’ Jüngern zählten, da von diesen drei dieselben Namen trugen; aber im folgenden Text klärt Johannes diese Frage: »Danach [nach dem ersten Wunder im galiläischen Kana] zog er hinab gen Kafarnaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger...« (2, 12). Bei Jesus’ Geburt scheint der älteste Halbbruder etwa fünfzig Jahre alt gewesen zu sein und der jüngste fünfundzwanzig.
Josef war also ein ehrwürdiger Patriarch, und so ist es nur allzu verständlich, daß ihn der Gedanke an einen Skandal erschauern ließ, als Maria plötzlich auf unerklärliche Weise schwanger war. Abermals trat der Hohepriester auf den Plan und zwang ihn unter Androhung einer Gefängnisstrafe, Maria zur Frau zu nehmen. Den Wortlaut dieser Begebenheit habe ich direkt den Apokryphen entnommen.
Es handelt sich dabei um einen wesentlichen Umstand, denn er beleuchtet die sicherlich recht schwierige Beziehung, die der alte Mann zu einem Kind, das nicht sein eigenes war, unterhalten mußte, unter einem ganz neuen Aspekt — was immer die christliche Heiligenlegende da auch behaupten mag. Auch weist dieser Überlieferungsstrang darauf hin, daß Jesus kein Priester gewesen ist; ja, Josef hat ihn sogar aus dem Tempel geholt, als das Kind von den Schriftgelehrten geprüft wurde.
Auch der Grund für Josefs überstürzte Flucht aus Palästina ist von Bedeutung, desgleichen derjenige, weshalb er sich bei seiner Rückkehr in Kafarnaum niederließ. Als Priester und Zimmermann — viele Priester übten ganz bestimmte erlaubte Berufe aus wie zum Beispiel den des Zimmermanns — war Josef geradezu dazu prädestiniert, am Tempelbau, den Herodes der Große im Jahre 20 vor unserer Zeitrechnung beschloß, mitzuwirken. Dazu brauchte man Handwerker, an denen es zwar in der römischen Provinz keineswegs mangelte, doch auf den Tempelgrund durften nur Geweihte, also Priester, den Fuß setzen. Ganze Scharen von Priestern wirkten am Bau, oder genauer: am Wiederaufbau des Tempels mit, nicht nur Zimmerleute, sondern auch Maurer, Dachdecker, Marmorschleifer, Dekorateure usw. Der Stamm Davids — ein rein zufallsbedingter Titel — , dem Josef angehörte, genoß einst das Vorrecht, das nötige Holz zur Instandhaltung des alten Tempels zu liefern. Folglich war Josef auch besonders geeignet, als Zimmermann direkt am Wiederaufbau mitzuarbeiten; damals mußte er zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt gewesen sein. Josephus Flavius, dessen Niederschriften eine der wertvollsten Informationsquellen über die Geschichte der Juden darstellen, berichtet, daß die Priester, und vor allem die Pharisäer, sich ständig gegen Herodes den Großen verschworen, wobei sie sich auf unzählige verwickelte Intrigen einließen, deren Fäden sich bis in die Königsfamilie
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