Ein Mensch namens Jesus
erstreckten, ja sogar bis in die Küchen des alten hasmonäischen Palastes gesponnen wurden. Josef war mit großer Wahrscheinlichkeit Pharisäer, einmal, weil die Sekte der Nazarener nur Pharisäer aufnahm, dann aber auch, weil es offenbar unter den Sadduzäern keine Handwerker gab. Man kann bedenkenlos davon ausgehen, daß Josef als redlicher und legitimisti-scher Jude Herodes verabscheute. Er verzieh ihm seine zahlreichen Fehler nicht und konnte auch nicht vergessen, daß er mit einem Schlag fünfundvierzig Mitglieder des Sanhedrin — die ihm entschieden zu feindlich gesinnt waren — hatte hinrichten lassen. Josef teilte wohl mit den meisten Juden die Einstellung — eine Einstellung, die in der christlichen Überlieferung erhärtet wurde — , daß Herodes ein Thronräuber und Mörder sei. Wahrscheinlich scheiterte eine der Intrigen, in die er verwickelt war, und da Herodes nicht gerade zimperlich mit seinen Feinden umging, floh Josef Hals über Kopf nach Ägypten. Mit dem Zufluchtsort hatte er eine gute Wahl getroffen, denn in Alexandria gab es eine große, blühende jüdische Kolonie.
Nebenbei sei bemerkt, daß sich nirgendwo ein Hinweis auf irgendein Gemetzel finden ließ, das Herodes der Große an Neugeborenen verübt haben soll. Seinen Zeitgenossen entging keine seiner Handlungen, und alle Ereignisse während seiner Herrschaft wurden aufgezeichnet; so wäre auch ein Massenmord an Neugeborenen sicher nicht unbemerkt geblieben. Der in den synoptischen Evangelien angegebene Vorwand klingt unwahrscheinlich: Herodes wußte sehr wohl — und das aus gutem Grund-, daß die Aufzeichnungen der davidischen Ahnenfolgen, die den Anspruch eines eventuellen Erben hätten geltend machen können, nicht existierten, da er sie ja hatte vergraben lassen. Das berühmte Massaker des bethlehemitischen Kindermordes ist schlicht und einfach eine fromme Erfindung, dazu bestimmt, die Idee einer königlichen Herkunft Jesus’ zu untermauern.
Es ist einleuchtend, daß Josef sich nach dem Tod Herodes’ des Großen bei der Rückkehr aus Ägypten in Kafarnaum niederließ: Kafarnaum war eine große Stadt in der für ihre Aufsässigkeit weithin bekannten Provinz Galiläa. Dort konnte Josef also Arbeit finden und Lehrlinge einstellen. Außerdem deutet eine besondere Stelle in den kanonischen Evangelien darauf hin, daß Kafarnaum Jesus’ Stadt und folglich auch die Josefs war: »Und über etliche Tage ging er wiederum nach Kafarnaum; und es ward ruchbar, daß er im Hause war« (Mark. 2, 1). Damit hoffe ich einen groben Einblick in Josefs Persönlichkeit gegeben zu haben. Er ist ein übertrieben pflichtgetreuer Gläubiger und ein verbitterter Legitimist, der die letzten Jahre seines Lebens möglichst weit von Jerusalem zubringen will, ohne deshalb aber sein Land zu verlassen. Es ist unmöglich, genau festzulegen, weshalb er Jesus nicht zum Rabbiner ausbilden ließ; vielleicht, weil er seine Bedenken hatte, was die wahren Umstände von dessen Zeugung betraf, und wußte, daß ein uneheliches Kind nicht zum Priester gewählt werden konnte, vielleicht aber auch, weil er die geistliche Administration in Jerusalem verachtete. Jedenfalls war seine Erziehung die beste Vorbereitung auf das Noviziat bei den Essenern.
Immense Mühe war vonnöten gewesen, um eine Analyse der Handschriftenfunde vom Toten Meer vorzunehmen, jener Sammlung von Glaubenslehren und Regeln, die den künftigen Generationen vermacht werden sollten, und zwar paradoxerweise von Männern, die an das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt glaubten, von den Essenern. Nach Lektüre sämtlicher verfügbarer Fragmente und eines Teils ihrer umfangreichen Begleitkommentare und nachdem ich das bereits erwähnte, gewagte kleine Werk des Kardinals Daniélou durchgearbeitet hatte, bin ich meinerseits zur festen Überzeugung gelangt, daß die Essener eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung von Jesus’ Lehre gespielt haben. Die vollkommene Abkehr vom Reich der Materie, das Warten auf den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Gottesreiches und die beharrlich praktizierte Taufe zur Reinigung von den Sünden des Körpers und des Geistes, diese drei typisch essenischen Merkmale — um nur sie zu nennen — wichen einfach zu stark vom durchaus andersgearteten Glaubensgefüge der Juden ab, als daß sie aus reinem Zufall auch in Jesus’ Lehre wieder auftauchen könnten. Die Sekte der Essener war eineinhalb Jahrhunderte vor Jesus gegründet worden; nur sie konnten ihn beeinflußt haben.
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